22. Juni 2006 DIE ZEIT

Jede hat einen guten Grund

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Ökonomen und Soziologen untersuchen, warum sich Frauen in Deutschland nicht öfter fürs Kinderkriegen entscheiden

(Dieser Artikel erschien als dritter Teil der vierteiligen ZEIT-Serie „Demografie“. Online-Version auf ZEIT ONLINE.)

Die Deutschen kriegen zu wenig Kinder. Kaum ist dieser Satz ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, lässt die Schuldfrage nicht lange auf sich warten. War es die Erfindung der Pille? Die Emanzipation der Frau? Gibt es eine neue „Kultur der Kinderlosigkeit“, in der der Mensch sich das Kinderkriegen abgewöhnt? Haben junge Leute zu viel Angst vor der Zukunft, um ein Kind zu riskieren? Die Antwort ist unbefriedigend: Niemand weiß es genau. Theorien zum Geburtenrückgang gibt es in der Wissenschaft fast so viele wie Bevölkerungsforscher. Aber keinen Konsens.

Unter den Forschern besteht nicht einmal Einigkeit darüber, was man überhaupt erklären will. Für die einen ist der „zweite demografische Übergang“ entscheidend: das rapide Absinken der Geburtenrate von mehr als zwei Kindern pro Frau während des Baby-Booms in den Sechzigern auf etwa 1,4 Kinder Mitte der siebziger Jahre in Westdeutschland. Andere Forscher – vor allem Ökonomen -, halten dagegen den „ersten demografischen Übergang“ für den entscheidenden: In Deutschland sinkt die Zahl der Neugeborenen schon seit hundert Jahren. Um 1860 lag die Geburtenrate im Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches noch bei 4,7. Bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fiel sie auf 1,8 und damit unter die Marke von 2,1, bei der sich die Elterngeneration selbst reproduziert. Dieser Jahrhunderttrend ist ein weltweites Phänomen. Während ihn die Industrienationen bereits hinter sich haben, ist der Geburtenrückgang in den weniger entwickelten Weltregionen entweder in vollem Gang oder hat gerade begonnen. Wirtschaftswissenschaftler glauben fest daran, dass es der stetig steigende Reichtum ist, der seit hundert Jahren zu immer weniger Kindern führt – obwohl eigentlich Geld für mehr da wäre. Denkt man dieses „ökonomisch-demografische Paradoxon“ zu Ende, heißt das: Die reichen Nationen sterben aus.

Das theoretische Vehikel für die Argumentation der Ökonomen sind die so genannten Opportunitätskosten der Familiengründung. Wer sich für oder gegen ein Kind entscheidet, wägt ab: den „Nutzen“, wie etwa die Freude am Kind, gegen die „Kosten“. Das sind neben den direkten Unterhaltskosten die Opportunitätskosten. Dazu zählt vor allem das Geld, das die Mutter nicht verdienen kann, solange sie nur für ihr Kind da ist. Steigen die Löhne, dann wird dieser Einkommensverlust höher und für die Frauen schmerzlicher. Die Folge: Die Frauen entscheiden sich für das Geld und gegen das Kind.

Es gibt optimistischere Wissenschaftler. Sie betrachten den weltweiten Rückgang der Geburten als Übergang von einem Gleichgewichtszustand der Bevölkerung zum nächsten. Während früher nicht nur die Geburten-, sondern auch die Sterberaten hoch waren, sind sie heute beide niedrig. Das Bild des Gleichgewichts passt allerdings nicht ganz: Früher starben pro Jahr weniger Menschen, als geboren wurden, heute liegen die Geburtenraten oft unter der Reproduktionsrate von 2,1. Aber eben nicht immer. Beispiele wie Skandinavien zeigen, dass ein Gleichgewicht auch für moderne Staaten möglich ist. Wie der Weg ins Gleichgewicht zu beschreiten ist, sagt diese Theorie indessen nicht.

Anders als der ökonomische Erklärungsversuch führt die soziologische „Theorie des zweiten demografischen Übergangs“ den neueren Geburtenrückgang vor allem auf einen Wertewandel in der Gesellschaft zurück. Ein gesteigerter Individualismus, das höhere Konsumbedürfnis oder der steigende Wert der Freizeit werden als Ursachen gesehen.

Wollen Frauen lieber ein eigenes Einkommen als ein eigenes Kind?

Die öffentliche Debatte schuf daraus eine „Kultur der Kinderlosigkeit“, in der Nachwuchs keinen Wert mehr hat. Gibt es die wirklich? „Wir haben im Moment einen Diskurs, der zum Großteil aus Mythen besteht, für die es keine kausalen Zusammenhangsbelege gibt“, sagt Gerda Neyer, Politologin und Mathematikerin vom Max-Planck-Institut (MPI) für demografische Forschung in Rostock. Auch die Kultur-Theorie des neueren Geburtenrückgangs ist nie kausal belegt worden. Das geht auch gar nicht. „Es ist fast unmöglich, in solchen Zusammenhängen Ursache und Wirkung auseinander zu halten“, sagt Gerda Neyer.

Um zu erforschen, was die wahren Beweggründe für oder gegen das Kinderkriegen sind, müssten erst einmal saubere Methoden ersonnen werden. Ob etwa Kinder generell an Wert verlieren und darum die Geburtenzahlen sinken, sei mit Einmalbefragungen nicht feststellbar. Denn sie missachten eine banale Erkenntnis: Die Ursache kommt vor der Wirkung. Über lange Zeit hinweg muss man zunächst betrachten, welche Einstellungen ein Mensch hat, um später zu vergleichen, ob seine angegebenen Ideale mit der Geburt von Kindern zusammenfallen oder nicht. Anders sind kausale Zusammenhänge nicht zu erfassen. Eine solche Forschung dauert aber Jahre. Zwar entstehen mit dem „Beziehungs- und Familienentwicklungs-Panel“ und dem „Gender and Generation Survey“ in Deutschland und auf europäischer Ebene nun erstmals mächtige Langzeiterhebungen zu Familien- und Fertilitätsfragen. Bis daraus erste Schlussfolgerungen zur Verfügung stehen, wird aber noch einige Zeit vergehen.

Doch lange warten, das wollen vor allem die Medien nicht. „Grund für Geburtenkrise weiterhin ein Rätsel“ ist eine schlechte Schlagzeile. Umfrage- und Prognose-Institute – sogar Unternehmensberatungen – werfen darum eine Studie nach der anderen auf den begierigen Markt der öffentlichen Meinung. Leider sind ihre Aussagen oft schlecht belegt. Da werden Korrelationen zu Beweisen, Einmalbefragungen zu kulturellen Trends und erfundene Rankingnoten zu verlässlichen Indikatoren für die demografische Zukunft.

Aber es nützt wenig, Weltbilder durch schlechte Methoden retten zu wollen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zweifelt offenbar am Pessimismus der Wohlstandstheorien. Mit sorgfältig herausgesuchten Datenreihen versuchen die Berliner deshalb, das Gegenteil zu beweisen. So zeigen sie Zahlen, die im Ländervergleich zu belegen scheinen, dass mit der Frauenerwerbsquote auch die Fertilität steigt – und nicht sinkt. Rein statistisch lässt sich dieser Zusammenhang auch finden. Nur sind solche Korrelationen noch keine kausalen Beweise. Auch dass sich im Osten Deutschlands wieder vermehrt der Weißstorch ansiedelt, hat nichts mit den dort steigenden Geburtenraten zu tun. Kein Wunder, dass der Wirtschaftsweise Bert Rürup in einem Bericht für das Bundesfamilienministerium einen ähnlichen Ländervergleich zur Frauenarbeit zeigt wie die Berliner, aber zu dem Schluss kommt, es gebe keinen Zusammenhang mit der Geburtenhäufigkeit.

Das Berlin-Institut hat viel Aufwand in eine Studie gegen Fatalismus und Frauenfeindlichkeit gesteckt. Wissenschaftlich betrachtet, lehren solche Korrelationen leider gar nichts. Auf welch wackligen Beinen die gängigen Erklärungsmodelle für das Kinderkriegen tatsächlich stehen, zeigt sich, wenn doch einmal eine aussagekräftige Untersuchung gelingt. So attackiert der Heidelberger Soziologe Thomas Klein, diesmal mit methodisch kaum anfechtbarem Geschütz, nicht weniger als die These von den Opportunitätskosten. Klein stellt fest, dass nie untersucht worden ist, ob Frauen wirklich so denken, wie es Ökonomen postulieren – ob sie also tatsächlich den Verlust an Einkommen während der Erziehung gegen die Freude am Kind abwägen. Der Soziologe hat in einer Längsschnittstudie zwölf Jahre lang mehr als 5000 Frauen beobachtet. Er hielt nicht nur fest, welche Vorstellungen jede von ihnen zu Beruf und Kindern äußerte, sondern auch, ob sie später tatsächlich ein Kind bekam. Und fand heraus: Ob Beruf oder Karriere im Fall einer Geburt zurückstehen mussten, beeinflusste die Frauen nur wenig. Ausschlaggebend war eher, ob sie grundsätzlich in Kindern etwas sahen, was ihr Leben erfüllter und intensiver macht. Das heißt, das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül hatte kaum Bedeutung für die Entscheidung der Frauen.

Die Ergebnisse sind gleich in doppelter Hinsicht starker Tobak, denn ohne Opportunitätskostenhypothese fallen nicht nur die Wohlstandstheorien in sich zusammen. Die politische Begründung für Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie entkräften sie gleich mit. Denn auch die beruht auf dieser ökonomischen Idee: Letztlich zielt alles, was Müttern das Geldverdienen ermöglicht, darauf ab, die Opportunitätskosten zu senken – auch die Bereitstellung von Kinderbetreuung. Dass seine Ergebnisse am politischen Mantra der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kratzen, weiß Thomas Klein. Den Begriff von einer „Kultur der Kinderlosigkeit“ möchte er zwar lieber nicht in den Mund nehmen. Seine Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass es eine derartige Stimmung gibt. Pikant auch, dass in Kleins Untersuchungen die Ansicht, Kinder erfüllten das Leben mit Sinn oder machten es intensiver, am seltensten von Akademikerinnen angegeben wurde.

Der Lüneburger Soziologe Günter Burkart spricht von einer „Kultur des Zweifelns“. Heute sei es normal, auch den Kinderwunsch genau zu überdenken. Gründe zu zweifeln gebe es viele. Reicht das Geld? Kann ich mein Kind und meinen Partner gleichzeitig glücklich machen? Bin ich überhaupt in der Lage, ein Kind zu erziehen? Er sieht darin keinen Egoismus, sondern eher eine „Selbstthematisierung“. In einer modernen Gesellschaft wachse das Bedürfnis, über alles und jedes nachzudenken und so schließlich auch sich selbst systematisch immer wieder infrage zu stellen.

Oder ist wichtig, ob sie in Kindern überhaupt Erfüllung zu finden hoffen?

Für Gerda Neyer vom MPI in Rostock reicht eine Studie wie die des Soziologen Klein indessen nicht aus, um von einem Trend zu sprechen. „Für fast alles lassen sich gewisse Belege finden“, sagt die Methodenexpertin, „man will immer den einen Grund für das Geburtenverhalten haben, aber den gibt es nicht.“ Ist es vermessen, die Bevölkerungsforschung nach Gründen für das in Deutschland fehlende halbe Kind pro Frau zu fragen? Oder ist es nur wissenschaftliche Übervorsicht, wenn Forscher wie Neyer sehr zurückhaltend argumentieren – weil sich rein prinzipiell alles widerlegen lässt? Nein. Die Demografie ist einfach noch nicht so weit, sich mit handfesten Begründungen für den Geburtenrückgang in die Debatte einzumischen. Denn sie ist eine unterentwickelte Wissenschaft, gerade in Deutschland.

Durch die Nazis zur Begründung von Eugenik und Rassenhygiene missbraucht, galt die Demografie nach dem Zweiten Weltkrieg lange als belastet. Erst in den Siebzigern bekam die Bundesrepublik mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden ein staatliches und erst 1996 mit dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock das erste größere nichtstaatliche Forschungsinstitut für Demografie – eines der größten weltweit. Mit Macht drängen die Demografen dort voran, ihr eigenes Forschungsfeld zu erschließen. In Rostock spricht man gern von einer „neuen Demografie Europas“, die es zu begründen gilt. Denn die verschiedenen Länder sind mit ihren unterschiedlichen Fertilitätsmustern und ihren verschiedenen kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen geradezu perfekt geeignet, das Geburtenverhalten zu untersuchen.

Doch bevor sie zu gesicherten Aussagen kommt, muss sich die Demografie in gewissem Sinne erst neu erfinden. Denn nicht nur ihre Methoden, auch ihre Theorien sind unterentwickelt. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich Demografen, Soziologen und Psychologen zusammen mit Ökonomen, Anthropologen, Politologen und Forschern aus dem Bereich des Gender Mainstreaming an einen Tisch setzen müssen, um mit dem Wissen aller Disziplinen neue Ideen zu entwickeln für das komplexe Forschungsfeld Mensch.

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