14. Juni 2013, 10:21  2 Kommentare

Lonely Planet? (Eine Alternative zur neuen UN-Prognose)

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Prognosen sind immer gut für eine Nachricht. Nachdem die UN gestern ihr neue Projektion zur Weltbevölkerung („Revision 2012“: alle Daten online) herausgegeben hat, berichteten die Medien sogleich, dass die Menschheit stärker anschwillt als gedacht: Bis zum Jahr 2050 von heute 7,2 auf 9,6 Milliarden, und damit um 250 Millionen mehr, als die Vereinten Nationen noch vor zwei Jahren angaben. Im Jahr 2100 – bis dahin rechnen die UN-Statistiker – sollen es mit 10,9 Milliarden Erdbürgern sogar knapp 750 Millionen mehr sein als bisher angenommen. Was bei solchen Meldungen fast immer untergeht: Es könnte ganz anders kommen.

Weltbevoelkerung_Prognose_Varianten_UN_WPP_Revision_2012
Die Varianten unterscheiden sich durch die angenommene Entwicklung der Geburtenraten. Niedrige Variante: Die weltweite Kinderzahl pro Frau fällt bis 2100 auf 1,5 (von heute gut 2,5); Mittlere Variante: Rückgang auf 2,0; Hohe Variante: Anstieg auf 2,5; Konstante Variante: Die Geburtenrate wird in allen Ländern konstant gehalten. Dadurch wachsen die weniger entwickelten Länder wegen ihrer hohen Geburtenraten so stark, dass im globalen Durchschnitt die Kinderzahlen pro Frau ansteigen bis auf 4,6 im Jahr 2100.

Tatsächlich veröffentlichen die UN verschiedene Szenarien. Zitiert wird aber nur die „Medium“-Variante. Das ist kein Wunder, denn die Vereinten Nationen selbst bauen ihre Pressearbeit auf dieser Variante auf. Und eigentlich glauben die Statistiker auch relativ fest an sie. Das ist erstaunlich, denn es gibt Forscher, die halten ganz andere Zukünfte für möglich. Zum Beispiel diese: Bis 2100 sind wir nicht mehr als heute, und 2300 leben nur noch 870 Millionen (!) Menschen auf der Erde. Diese und andere (zunächst) unglaubliche Prognosen haben Bevölkerungswissenschaftler gerade im Journal Demographic Research veröffentlicht:

Alternative Forscher-Szenarien: Weltbevölkerung in Milliarden
bei einer Lebenserwartung bis zu 100 Jahren

Weltbevoelkerung_alternative_Szenarien_Geburtenraten_625
Quelle: „Very long range global population scenarios to 2300 and the implications of sustained low fertility“, Basten, Lutz, Scherbov in Demographic Research

Wie ist das möglich? Man kann fast jede Bevölkerungsgröße prognostizieren, wenn man nur die entscheidende Annahme entsprechend wählt: Die Geburtenrate, also die Zahl der Kinder pro Frau. Zu den 870 Millionen Erdbürgern im Jahr 2300 kommen die Wissenschaftler, indem sie annehmen, dass sich die Geburtenrate der ganzen Welt bei 1,5 einpendelt. Das wäre etwa die Größenordnung, die sie in vielen entwickelten Ländern schon seit einiger Zeit hat. In manchen Ländern ist sie sogar kleiner, z.B. in Deutschland.

Die Logik hinter der Zielmarke 1,5: Momentan haben vor allem die Entwicklungsländer noch sehr hohe Raten von vier, fünf oder sogar sechs Kindern pro Frau. Darum liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau für den ganzen Globus auch mit etwa 2,5 deutlich über den Werten in den Industrienationen. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die armen Länder entwickeln und ihre Geburtenziffern fallen. Genau dasselbe ist auch in allen der heute reichen Länder passiert. „Demografischer Übergang“ nennen Bevölkerungsforscher das Phänomen, und sie nehmen an, dass es universell ist. Könnte es also nicht durchaus sein, dass die Geburtenrate der gesamten Menschheit im Zuge ihrer Entwicklung auf 1,5 fällt, und damit unter das Bestandserhaltungsniveau von 2,1, bei dem die Bevölkerungsgröße stabil bliebe?

Die UN halten an der Zweikind-Norm fest

Das kommt drauf an, wen man fragt. Die Vereinten Nationen würden das nicht unterschreiben. Sie gehen davon aus, dass sich die Menschheitsbevölkerung langfristig auf ein Gleichgewicht zubewegt. Das heißt: Auf eine durchschnittliche Geburtenrate von ungefähr zwei, bei der die Größe gleich bleibt. Das bedeutet letztlich, dass sich jedes einzelne Land auf dieses Ziel hin entwickelt. Das muss man sich einmal grafisch vor Augen führen:

Kinderzahl pro Frau in 201 Ländern
Geburtenraten in der Vergangenheit und Annahmen für die UN-Prognose

Geburtenraten_Welt_Laender_UN_Prognose_WPP_Revision_2012_625
Daten: Vereinte Nationen, World Population Prospects, the 2012 Revision (2013), bereitgestellt von der Stiftung Weltbevölkerung

Länder, deren Fertilität heute noch weit über der zwei liegt, würden demnach „von oben“ auf die Zielgerade zugleiten, in entwickelten Ländern mit niedrigen Raten würden sie wieder steigen. Die Zweikind-Norm ist für die UN schon etwas Historisches. Sie wurde zwar inzwischen etwas aufgeweicht: Einige sehr arme Länder bleiben auch 2100 über zwei und in einigen entwickelten Nationen steigt die Geburtenrate nur bis auf 1,85. Insgesamt bleibt aber die Zwei das Ziel.

Hinter jeder Prognose steckt eine Vision

Andere halten das für die romantische Vision eines globalen Gleichgewichtes, das es so nie gegeben hat und auch nie geben wird. Darum berechnen die Forscher um den Wiener Demografen Wolfgang Lutz in ihrem Artikel für Demographic Research auch einige Szenarien mit sehr niedrigen Geburtenraten, bis hin zu nur noch 0,75 Kindern pro Frau. Dann wären wir Ende des Jahrhunderts nur noch 3,6 Milliarden und Hundert Jahre später nur noch ein kleines Menschheitsvölkchen:

Alternative Forscher-Szenarien: Weltbevölkerung in Milliarden
bei einer Lebenserwartung bis zu 100 Jahren

Tabelle_Weltbevoelkerung_bis_2300_alternative_Forscherszenarien_625
Quelle: „Very long range global population scenarios to 2300 and the implications of sustained low fertility“, Basten, Lutz, Scherbov in Demographic Research

Forscher wie Wolfgang Lutz bemängeln, dass die Vereinten Nationen zu wenige Szenarien berechnen, und dass die Fertilitätsannahmen ihrer Szenarien zu eng beisammen liegen. Außerdem wären sie in der Tendenz zu hoch. Lutz Hauptargument: In Europa blieb die Fertilität während der letzten 30 Jahre unter 1,85. In einigen Ländern Ostasiens sogar sehr weit darunter. Auch in Asien insgesamt sind die Raten rapide gefallen. Asien und Europa könnten damit Trendsetter für den Rest der Welt sein:

Geburtenraten in großen Regionen (real)
Kinder pro Frau

Geburtenraten_Asien_Europa_Welt_UN-Prognose_Revision_2012_625
Vereinte Nationen, World Population Prospects, the 2012 Revision (2013), bereitgestellt von der Stiftung Weltbevölkerung

Lutz findet eine kleinere Weltbevölkerung übrigens gar nicht unbedingt schlimm. Wenigstens nicht so schlimm wie die Gefahr einer massiven Überbevölkerung. Für Afrika könnte es dazu allerdings kommen, räumt der Demograf ein. Denn dort scheinen die Geburtenraten in letzter Zeit nicht weiter gefallen zu sein – anders, als es die Theorie vom demografischen Übergang nahelegen würde. Genau deswegen haben die UN nun auch zum zweiten Mal in Folge ihre Prognose erhöht.

Doch können die Geburtenraten in Afrika wirklich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hoch bleiben? Die Wissenschaftler haben ausgerechnet, was das hieße: Wenn die Fertilität in Subsahara-Afrika tatsächlich bei fünf Kindern pro Frau stehen bliebe, dann würden in der Region 2100 bereits 12 Milliarden Menschen leben, 2200 wären es 355 Milliarden. „Schier unglaublich“ finden die Forscher das. Und das beschreibt sehr schön, was am Ende hinter jeder Prognose steckt: der Glaube, dass eine Zukunft wahrscheinlicher ist als eine andere.

Fester Glaube schafft Wirklichkeit

Dieser Glaube könnte gar keine so schlechte Richtschnur sein. Denn er könnte solche Prognosen zur Self-fulfilling Prophecy machen: Vielleicht erreichen wir in Europa in hundert Jahren eine höhere Geburtenrate, wenn wir es wirklich wollen: Durch eine Arbeitswelt, die Kinder möglich macht, durch mehr Gleichberechtigung und gute Familienpolitik. Und vielleicht sinken in den ärmeren Ländern die Raten: Weil wir ihnen fair helfen, sich selbst zu entwickeln, weil dadurch Bildung möglich wird und Frauen mehr Autonomie bekommen – auch was die Familienplanung angeht.

In diesem Sinne würde ich mich im Zweifel zu den Zwei-Kind-Visionären der Vereinten Nationen zählen. Aber es könnte auch anders kommen. Und wenn uns Wissenschaftler nicht mehr mit verwegen anmutenden Alternativprognosen darauf hinweisen würden, wären wir am Ende der Diskussion. Und dann würde sich vielleicht gar nichts ändern.

Also her mit neuen Szenarien, liebe Demografen!

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Stefan Siewert Juli 9, 2013 um 23:20

Eine sehr gute Darstellung. Vielleicht kann man die Denkmodelle noch etwas weiter entwickeln. Menschen sind rationelle Wesen. Die Industrialisierung vor 250 Jahren bestimmte das Gleichgewicht zwischen Wohlstand und Bevölkerung neu: Investitionen in das Humankapital in den entwickelten Industrieländern brachte überdurchschnittlichen Nutzen. Für den Rest der Welt galt dies umgekehrt. Es war wirtschaftlich sinnvoll, Industrieartikel zu importierten, Rohstoffe zu exportieren und die Wirtschaft durch Bevölkerungswachstum zu steigern. Eine profane, aber wirkungsmächtige und weitestgehend etablierte Erklärung: Home oeconomicus liegt hinter der unterschiedlichen Fertilität.
Dies scheint sich inzwischen global zu ändern. Der Rest der Welt folgt dem Westen schneller als er selbst reich wird.
Es könnte sich auch im „Westen“ ändern – ein Umkehrpunkt, bei dem der politische Konsens hin zu mehr Kindern kippt und sich ein breiter politischer Konsens herausbildet, dass mehr Kinder oder wenigstens eine stabile Bevölkerung gut für den Erhalt des Wohlstandes und seine Mehrung ist. Wir sind noch nicht an diesem Punkt. Deutschland ist wirtschaftlich attraktiv, so dass es die arbeitsintensive Tätigkeit der Kindererziehung faktisch auslagern kann. Egoismus, moral hazard, der Tausch von höherer Lebensqualität gegen Kindererziehung. (Wenn man Lebensqualität so definiert, wie dies gegenwärtig der Fall ist, als Selbstverwirklichung ohne Kinder ). In 2 – 3 Jahrzehnten kann die Situation aber vollständig anders aussehen. Und Japan ist hier ein gutes Beispiel für die vor uns stehenden strukturellen Herausforderungen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung wird das hohe Durchschnittsalter mit der 20-jährigen Depression in Verbindung gebracht. Inflation entwertet Ersparnisse, Rentner sind darin nicht interessiert, aber aktive Wähler. China wird zum Lackmustest – es wird alt bevor es reich wird. Dann könnte es sein, dass auch in Deutschland die demographische Wende zu mehr Kindern aus wirtschaftlicher Sicht erfolgt. Diese Überlegungen stärken eher die UN Annahme von 2 Kindern je Frau. Es ist der Durchschnitt von gegensätzlichen Tendenzen.

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Anstaltszauber Juli 16, 2013 um 20:02

Es spielen noch weitere Momente hinein. In den entwickelten Ländern gibt es einen Trend, daß der Zeitpunkt der ersten Geburt hinausgezögert wird. Das dürfte mit steigender Entwicklung auch in weniger entwickelten Ländern passieren. Hängt mit verbessertem Wissensstand, besserer (und längerer) Ausbildung, einem verbesserten Zugang zu Verhütungsmitteln und einer verbesserten sozialen Absicherung zusammen.

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