
Lebensverhältnisse in Ost zu West
(Das Manuskript dieses Radiobeitrages findet sich in leicht geänderter Form auch auf der Website von Deutschlandradio Kultur.)
Anmoderation:
Als Einheitskanzler Kohl den DDR-Bürgern vor fast genau 20 Jahren „blühende Landschaften“ versprach, wurde sie geboren: Die Hoffnung, dass die Lebensverhältnisse in ostdeutschen Bundesländern gleichwertig werden mit denen der West-Länder. Doch 20 Jahre nach dem 1. Juli 1990, als zwischen DDR und BRD der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts-, und Sozialunion in Kraft trat, bleibt diese Hoffnung weiter enttäuscht: Auf 80 Prozent des Westniveaus haben es die Einkommen in den neuen Ländern zwar geschafft, doch dort stagnieren die Werte seit Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist im Osten fast doppelt so hoch und die neuen Bundesländer hängen auf Dauer an den Sozialtransfers aus dem Westen. Ist der Traum von den gleichwertigen Lebensverhältnissen also gescheitert? Bleibt die Einheit unvollendet? Björn Schwentker hat in Sachsen-Anhalt und Berlin nachgeforscht, wie es um die Einheit in Geldbeuteln und Herzen der Deutschen steht.
Beitrags-Manuskript:
ATMO (Singende) So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergehen. JOURNALIST (über ATMO): Warum seid Ihr heute Abend zum Alexanderplatz gekommen? JUNGE FRAU 1: Weil wa det miterleben wolln, ja? Die D-Mark ist gekommen und mal miterleben, was hier passiert, wa? (FRAU 2) Ja, Silvester jibts jedes Jahr, aber die Mark gibt es nicht jedes Jahr (FRAU 4) Die Stunde Null für uns beginnt ein neues Leben, und das ist schön. Haben wir 40 Jahre drauf gewartet.
(Über abklingende ATMO): Berlin, Alexanderplatz, erster Juli 1990. Die Menschen jubeln euphorisch, als in der DDR die D-Mark eingeführt wird. Drei Monate wird es noch dauern, bis die DDR offiziell zu den fünf neuen Ländern der Bundesrepublik wird, und Ost- und Westberlin verschmelzen. Doch die Wiedervereinigung steht mit der Währungsunion politisch fest. Am Abend spricht Bundeskanzler Helmut Kohl im Fernsehen:
(Aus Fernsehansprache) Nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance und die Gewähr dafür, dass sich die Lebensbedingungen rasch und durchgreifend bessern. (2:22) Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.
Noch am Tag der Sozial-, Wirtschafts- und Währungsunion stürmten Tausende DDR-Bürger die Banken, um Ost- in Westmark umzutauschen. In dieser Vereinigungseuphorie wurde er damals geboren: Der Traum von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und West. Wären sie erreicht, wäre die Einheit vollendet.
ATMO: Mauerstücke (Touristen, Lehrer spricht zu Schülern)
Potsdamer Platz, Juni 2010. 20 Jahre liegt die Wende zurück, die Mauer ist weg. Bis auf ein paar historische Bruchstücke auf dem Bürgersteig. Heute sind sie gut für den Geschichtsunterricht.
ATMO: Lehrer und Schüler
(Über ATMO Schritte und Verkehr): Wenige Schritte weiter ist von der Mauer nichts mehr zu sehen. Doch sind Ost und West-Berlin deswegen heute gleich? Und wie steht es mit den neuen und den alten Bundesländern? Sind Unterschiede noch spür- und sichtbar?
Never ending story.
Judith Kerschbaumer steht vor dem Eingang zu Ebertstraße Nummer 2 und zeigt auf den Gehweg. Für sie verläuft hier nach wie vor eine Grenze.
Auf der Straße, der gepflasterte Strich, der hier entlang geht und die Mauer nachzeichnet. Und durch die Häuser geht, und zum Teil ein Haus teilt in Ost und West.
Das Haus hinter der Gewerkschaftsfrau von verdi ist ein moderner Bürokomplex. Die Grenze geht mitten hindurch. Das bekam ein Angestellter zu spüren, dem dort gekündigt worden war: Weil der Eingang des Hauses in Ostberlin liegt, bekam er Arbeitslosengeld nach dem Ostsatz – in seinem Fall 200 Euro weniger als im Westen. Der Mann klagte vor Gericht, weil sein Schreibtisch im Westteil des Gebäudes stand. Das zählt aber nicht. Der Mann bekam nicht Recht. Für sein Arbeitslosengeld galt die Beitragsbemessunsggrenze Ost, die unter der des Westens liegt. Sie betrifft nicht nur Arbeitslose, sondern auch Rentner.
genau das, was niemand mehr versteht, was 20 Jahre danach ganz schwer vermittelbar ist, warum es zwei Rentensysteme geben muss. Und ich glaube, ganz viele Jüngere wissen es gar nicht mehr, und ganz viele Menschen mittleren Alters, die nicht in Berlin und den neuen Bundesländern wohnen, sind sich dessen gar nicht gewahr, dass wir immer noch Zweiteilung haben in Deutschland.
Für Judith Kerschbaumer schreiben die verschiedenen Beitragsbemessungsgrenzen die Zweiteilung des Landes per Gesetz fest: Die Bezugsgrößen sorgen auch dafür, dass im Osten Kindererziehungs- oder Pflegzeiten ebenso weniger für die Rente zählen wie etwa der Wehrdienst. Ein Zweiklassenrecht.
Diese zwei Welten wirken sich immer noch aus, zum einen bei den Einkommen, wir haben bei den neuen Bundesländern, also im Ostteil der Republik immer noch niedrigere Einkommen als im Westen und niedrigere Entgelte.
Für die Gewerkschafterin ist das nach 20 Jahren Einheit ein Skandal. Denn ohne angeglichene Einkommen könne es kaum gleichwertige Lebensverhältnisse geben. Der Gesetzgeber kann die Situation nicht verbessern, für die Löhne ist er nicht verantwortlich. Der Wohlstand im Osten hängt an der Produktivität der Unternehmen in den neuen Ländern.
Die blühenden Landschaften haben wir, allerdings nur im Frühling. In manchen Regionen.
Karl Brenke sitzt in seinem Büro und beugt sich über die jüngsten Wirtschaftszahlen. Der Soziologe am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin erforscht die Unterschiede zwischen Ost und West seit Jahren.
Pro Kopf kann man sagen, die neuen Bundesländer hängen bei der Wirtschaftsleistung noch deutlich zurück, sie erreichen gerade drei Viertel dessen, was in Westdeutschland an Sozialprodukt erzielt wird,() in der Tat ist es so: Die neuen Bundesländer liegen noch zurück.
Die Bruttolöhne sind in den neuen Ländern etwa ein Sechstel geringer als im Westen. Und bei den verfügbaren Einkommen geht die Schere zwischen Ost- und West-Ländern sogar wieder leicht auf. Krass unterscheiden sich die Arbeitslosenquoten: knapp acht Prozent West gegenüber gut 14 Prozent Ost. Viele verloren dort gleich nach der Wende die Arbeit – und fanden dann keine mehr. Noch heute werden in den neuen Ländern so viele Sozialleistungen gezahlt, dass sie sich nur mit Transfers aus dem Westen decken lassen. Sicher: Auch in den ostdeutschen Ländern gibt es wirtschaftlich starke Gebiete – einzelne Städte wie das sächsische Dresden oder Leipzig – aber der Normalfall ist das nicht.
Die Vorraussetzungen großer Teile Ostdeutschlands, wirtschaftlich aufzuholen gegenüber den strukturstarken Gebieten im Westen, oder auch gegenüber den strukturstarken Gebieten im Osten, die sind doch sehr gering.
Die wirtschaftliche Vollendung der Einheit, so der ernüchternde Befund der Wissenschaften, ist bis auf Weiteres nicht in Sicht. Dabei schien doch alles so gut loszugehen. Noch 1995 erntete Einheitskanzler Kohl zum Jahrestag der Wiedervereinigung im Bundestag jede Menge Applaus:
(Applaus) Nach fünf Jahren ist es schon an der Zeit, dass man einen Moment innehält und sich die Frage stellt: Was ist gelungen, was ist nicht gelungen? Und dann ist es unübersehbar: Dass der Strukturwandel und der Aufbau in den neuen Ländern zügig vorankommt, dass entgegen allen skeptischen Voraussagen die neuen Länder die Wachstumsregion Numero eins mit zehn Prozent Zuwachsrate in Europa sind, dass Investitionen Motor für Wachstum und Beschäftigung da sind…
ATMO (über leiser werdende Rede) Motor, rumpelnder Wagen auf Kopfsteinfplaster, Klaus Friedrich: „Sagen Sie bitte, komme ich da raus über die Straße? Nicht? Muss ich wieder zurück?“
(über ATMO): Halle, einst große Industriemetropole Sachsen-Anhalts. Klaus Friedrich, Professor für Sozialgeographie an der Universität Halle-Wittenberg, lenkt einen schwarzen Kleinbus durch das Hallesche Gewerbegebiet. Er sucht den Thüringer Bahnhof, ein Baudenkmal vergangenen industriellen Glanzes.
ATMO: Motor abstellen, Handbremse, aussteigen, Schlüssel
Ja, jetzt sind wir hier auf dem ehemaligen zentralen Industriegelände der Stadt Halle, und Sie sehen ja jetzt sind einige neue Gebäude hier entstanden, aber es ist noch vieles leer. Wir haben den Luxus der Leere in Halle eigentlich, der in manchen Büchern apostrophiert wird,
(über leisem Friedrich & Hintergrundatmo draußen): Einst war der Thüringer Bahnhof das geschäftige Verladezentrum der brummenden Industriestadt Halle. Heute hält hier kein Zug mehr. Um die nach der Wende stillgelegten Geleise wurde ein Park angelegt. In den Backsteingebäuden des liebevoll sanierten Handwerkerhofs sind ein paar kleine und mittlere Betriebe untergekommen. Wo es heute geradezu beschaulich ist, wurde zu DDR-Zeiten noch richtig malocht.
Da wurde noch tatsächlich in diesen alten Strukturen gearbeitet, die Zuckerfabrik war zur DDR-Zeit noch funktionsfähig, und wir hatten hier auch eine Zigarettenfabrik, und eine Kaffeerösterei hier in diesem Gebiet, aber diese Funktionen sind dann mit der DDR-Zeit auch verloren gegangen. Die Betriebe waren nicht mehr konkurrenzfähig und wurden dann sehr schnell aufgegeben und das führte gerade in Halle zu großen Problemen, weil die Stadt sehr stark auf den industriellen Sektor ausgerichtet war.
Die Industrie brach nicht nur in Halle selbst zusammen, sondern auch im umliegenden Osten Sachsen-Anhalts. Das Chemiedreieck Leuna-Bitterfeld –Buna war einst das Mekka der Branche. 70.000 Menschen, viele aus Halle, arbeiteten zu DDR-Zeiten noch in den Werken. In der Marktwirtschaft waren sie nicht mehr rentabel und machten dicht. Was für viele Jobverlust und Frustration bedeutete, war für andere nötige wirtschaftliche Gesundung.
Der Osten, der ist viel viel besser drauf, als wir uns das an vielen Stellen nach der Wende vorstellen konnten.
Ulrich Blum ist Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle. Es widerstrebt ihm, den wirtschaftlichen Zustand der Ost-Länder schwarz zu malen.
Die Frage ist: Was konnte man erwarten, nachdem man 40 Jahre ein Wirtschaftssystem hatte, das so ungefähr alles in Grund und Boden gearbeitet hat, was man in Grund und Boden arbeiten konnte. Die DDR-Nationalhymne sang ja immer „Auferstanden aus Ruinen“, die DDR hat richtiggehend Ruinen hier hinterlassen.
Nicht nur in Leuna hätten sich inzwischen wieder junge, verheißungsvolle Unternehmen angesiedelt. Auch anderswo ginge es stetig bergauf. Überhaupt gelte es zunächst mal, die bisherige Leistung in den neuen Bundesländern zu würdigen: Mit 30 Prozent des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommens ist der Osten gestartet. Innerhalb von 20 Jahren sei er auf 70 bis 80 Prozent gekommen. Ein riesiger Sprung, sagt Volkswirt Blum.
Diese 70 bis 80 Prozent sind ja immer zu reflektieren vor den Lebenshaltungskosten, die in Ostdeutschland geringer sind, also die Kaufkraft ist in Ostdeutschland relativ hoch, Sie müssen sich einfach mal die Quadratmeter Wohnpreise anschauen: Wenn Sie mit einem 30 Prozent höheren Gehalt nach Stuttgart gehen, sind sie trotzdem enteignet.
Der Osten, fordert Blum, solle sich nicht schlechter machen, als er ist. Und wenn er heute noch schwächer sei als der Westen, dann liege das an der immensen Kraft, die die alten Bundesländer in den ersten zehn Jahren nach der Wende dazu gewonnen hätten – und zwar aus den ostdeutschen Ländern. Durch Millionen junger Leute, die gen Westen wanderten.
Der Nettoeffekt sind 1,8 Millionen, die sind überdurchschnittlich weiblich, damit sozial kompetent, sind überdurchschnittlich gut ausgebildet und natürlich auch überdurchschnittlich jung. Und wenn man sich dann überlegt, was da für eine Wirtschaftsleistung dahinter steckt, da kommen Sie locker vom Hocker auf 60 bis 80 Milliarden Euro pro Jahr, das ist ungefähr ein Viertel des Wirtschaftswachstums Westdeutschland zwischen 1990 und 2000, also ist doch die Sache ganz anders zu betrachten, oder?
ATMO FRIEDRICH: (Schritte)
Wir sind also jetzt im Bürohaus West, und ich hoffe (schnauft), das wir einen Fahrstuhl bekommen,
(Über ATMO ) Stippvisite in Halle-Neustadt, ehemals sozialistischer Vorzeigestadtteil Sachsen-Anhalts.
A8 ATMO SCHRITTE, STIMMEN VOR AUFZUG, Tür auf
(Über ATMO Aufzug) Im Aufzug geht es aufs Dach des höchsten Hauses in der Plattenbausiedlung. Im 18. Stock ist Endstation.
ATMO (Tür auf) Friedrich (etwas außer Atem):
Jetzt gehen wir hier vor, ich hoffe, es ist geöffnet, (TÜR), so.“ „Jetzt haben wir einen schönen Blick eigentlich über ganz Halle-Neustadt.
Von der Dachterasse schweift der Blick über die Platte. Entlang der Magistrale sind die höchsten Betonbauten aufgereiht, dahinter kleinere Hochhäuser und Einkaufszentren. Sozialgeograph Klaus Friedrich deutet auf eine 18-stöckige Ruine direkt visavis.
Das Gebäude steht leer, ist funktionslos geworden, das war mal durchaus ein Wohngebäude gewesen, ja, und dann hat man überlegt, was man damit macht, also wir haben Leerstände, insgesamt in Halle von knapp 20 Prozent gehabt, und das sind viele Tausend Wohnungen, die leer stehen,
Klaus Friedrich referiert die Zahlen: 90.000 Menschen lebten kurz vor der Wende in Halle-Neustadt, heute ist es noch etwa die Hälfte. Ganz Halle ist um knapp ein Viertel seiner Einwohnerzahl geschrumpft, das Land Sachsen-Anhalt um 18 Prozent. Das sind über eine halbe Million Menschen. Vor allem die Jungen verlassen das Land, und damit die Eltern der nächsten Generation.
Da unten passiert es mal, dass ein Kinderwagen geschoben wird, dass wir die Kinderwagen aber nicht mehr in dem Maße erkennen können, wie wir es noch vor zehn Jahren etwa gesehen haben. Inzwischen dominieren Rollstühle und Rollatoren, und ältere Menschen, die hier noch einkaufen gehen. Das ist also schon augenscheinlich erkennbar.
Die Demografie offenbart, wie ungleich sich Ost und West noch sind: In den neuen Ländern sterben die Männer früher. Durchschnittlich 76 Jahren leben sie hier – im Westen anderthalb Jahre länger. Sachsen-Anhalt hat die schlechtesten Werte. Gut zwei Jahre kürzer ist ein Männerleben hier als im Bundesdurchschnitt. Ein unbestechlicher Beweis für ein klares Wohlstandsgefälle. Auch wenn mancher Ökonom es am liebsten wegreden möchte. Vielleicht, weil er es letztlich nicht erklären kann.
Im Grunde müssen wir zugeben, dass wir über die Ursachen dieses Wirtschaftsgefälles nicht viel wissen.
Henning Klodt vom Kieler Institut für Weltwirtschaft gehört nicht zu den Ökonomen, die den Osten aus Marketinggründen lieber etwas positiver darstellen. Der Volkswirt glaubt, dass der Aufholprozess der neuen Bundesländer schon Mitte der 90er-Jahre vorbei war.
Das sieht zur Zeit wirklich nach einem Dauerzustand aus, weil über mehr als zehn Jahre dieser Aufholprozess nicht weiter voran kam, und deswegen habe ich zumindest Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie denn die weitere Angleichung, oder wenn man es theatralisch sagen will, die Vollendung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, wie die dann noch mal wieder einen Anschub bekommen soll.
Damit ist Deutschland in einem Dilemma: Entwickelt sich die Wirtschaft im Osten nicht weiter, können auch die Löhne dort nicht steigen. Denn sie hängen an der Wirtschaftsleistung der Unternehmen. Gleichzeitig glaubt Henning Klodt aber, dass die Löhne werden steigen müssen:
Da wir ja in einer Sozialunion leben, und wenn die Sozialstandards in West- und Ostdeutschland einheitlich sind, wofür ja auch starke verfassungsrechtliche Gründe allein schon sprechen, dann wird man bei den Löhnen keine allzu großen Unterschiede überhaupt sehen können. Die Sozialunion bedingt letztlich auch relativ einheitliche Lohnverhältnisse zwischen Ost und Westdeutschland.
Und niemand wird auf Dauer bereit sein, zu einem Gehalt zu arbeiten, das nicht spürbar über dem Sozialhilfeniveau liegt. Wie die Lohnangleichung bei mangelnder Wirtschaftskraft klappen soll, ist unklar. Die momentane Lohnstruktur sorgt vor allem für Arbeitslosigkeit und hohe Sozialhilfeausgaben – bezahlt mit Zuschüssen des Westens.
Man mag darüber klagen, dass nach wie vor Sozialtransfers im großen Stile von West- nach Ostdeutschland fließen. Aber wenn man das stoppen wollte, müsste man im Endeffekt die Mauer wieder errichten, und das wird ja wohl keiner wollen.
Was also tun? Muss Deutschland die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Ländern am Ende dauerhaft aushalten? Sind sie vielleicht sogar normal? Durchaus, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, DIW:
Ostdeutschland war schon immer ein wirtschaftlich schwaches Gebiet zu großen Teilen, und es spricht vieles dafür, dass es das auch lange bleiben wird. Niemand würde im Westen 20 Jahre die Orientierung vor sich hin tragen: Wir müssen unbedingt dem bayerischen Wald und müssen unbedingt Ostfriesland an die Wirtschaftskraft der großen Zentren anpassen, die da sind München Frankfurt oder Hamburg. Auf diese Schnapsidee würde niemand kommen,
Doch dauerhafte Strukturschwächen hin oder her – die Ostdeutschen wollen gerne verdienen und leben wie der strukturstarke Westen. Meinungsumfragen, die das DIW analysiert hat, ergeben, dass Bürger der neuen Bundesländer deutlich unzufriedener sind als in Westdeutschland. Nicht nur mit ihrem Einkommen, sondern auch mit dem Leben generell. Das blieb sogar so, wenn es gar keine Unterschiede zum Westen gab:
Ich habe auch mal Untersuchungen gemacht, das war Ende der 90er Jahre zu dem erstaunlichen Befund, dass trotz gleicher Einkommen die Ostdeutschen eine höhere Einkommensunzufriedenheit zeigten.
Das heißt nicht, dass die Ostdeutschen ohne Grund nörgelten, meint Henning Klodt vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Nur sei das, was ihnen zur Wendezeit versprochen wurde,- frustrierenderweise – nicht erreichbar. Die Messlatte lag schon immer zu hoch.
Da wurden Dreisatzrechnungen gemacht, wenn bei einem doppelt so hohen Wachstumstempo in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, wann dann die ostdeutschen Länder aufgeschlossen haben werden und so weiter, das waren alles schlichte Dreisatzrechnungen, die mit der Realität also wirklich gar nichts zu tun hatten. Und von daher sind natürlich viele Blütenträume schlichtweg zerplatzt.
Volkswirt Ulrich Blum aus Halle will die Schuld an der gedrückten Stimmung im Osten dennoch nicht der Politik allein geben. Er sieht auch Mentalitätsprobleme, begründet unter anderem in 40 Jahren sozialistischer Staatswirtschaft.
Das Bild der blühenden Landschaften ist ja gar nicht so schlecht, aber in seiner pervertierten Interpretation sagt es: Der Staat hat nicht dafür gesorgt, dass die blühenden Landschaften da sind. Und damit hat man Staatsversagen, und dann sind die Leute unzufrieden, und dann sagen sie: Wir leben im schlechteren Teilstaat, und dann sind sie frustriert. Warum schaffen wir es nicht, diesen unglaublichen Glücksfall der deutschen Einheit, ohne Krieg, ohne Verwerfung, ohne verkrüppelte Menschen, als einen unglaublichen Glücksfall zu sehen und sagen: Mensch Kinder: Deshalb lohnt es sich, anzupacken!
Ja, warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil die Medien ihn immer wieder hochstilisieren, den Vergleich Ost mit West, bei dem die neuen Länder unweigerlich immer wie die Verlierer aussehen müssen? Aus Helmut Kohls historischer Ansprache vom ersten Juli 1990 werden heute nur noch die „blühenden Landschaften“ zitiert. Doch das greift zu kurz. Der Einheitskanzler hatte keineswegs so getan, als würde den Deutschen die Einheit zufliegen.
HELMUT KOHL (1990): Ich bitte die Landsleute in der DDR: Ergreifen Sie die Chance, lassen Sie sich nicht durch die Schwierigkeiten des Übergangs, die niemand leugnen kann, beirren. Wenn Sie mit Zuversicht nach vorn blicken, wenn alle mit anpacken, werden Sie und wir es gemeinsam schaffen.
ATMO Alexanderplatz (2010) auf
Auf dem Alexanderplatz in Berlin herrscht 20 Jahre nach der D-Mark-Fete lebendiges Treiben. Wetterfeste Ausstellungstafeln erinnern an die Geschichte der Wiedervereinigung, Lautsprecher spielen Sprechchöre der Wendedemonstrationen ab. Wir sind das Volk.
ATMO Sprechchöre
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