20. September 2012, 17:49

Kinder kriegen die Leute immer (Demografie-Blog in Vaterzeit II)

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Das Demografie-Blog geht wieder in Vaterzeit (Teil II). Hier wird es also in den nächsten Monaten ruhig zugehen (wie leider auch schon in den letzten, weil ich zwischen meinen Vaterzeitblöcken dringend Geld verdiene musste, und nicht viel bloggen konnte).

Gleichzeitig hat das Statistische Bundesamt heute die Geburtenraten (zusammengefasste Geburtenziffer) für das Jahr 2011 veröffentlicht (1,36 Kinder pro Frau im Jahr 2011, und damit 0,03 Kinder weniger als 2010). Erfreulicherweise haben manche Journalisten inzwischen gelernt, dass dies nicht die endgültigen Kinderzahlen pro Frau sind, die höher liegen. Nämlich bei 1,61 Kindern pro Frau für alle 1962 geborenen Mütter. Das ist der jüngste Jahrgang, dessen „Geburtenkarriere“ als abgeschlossen gilt (aus Sicht von 2011), weil die Frauen alle bereits 49 Jahre alt sind. Leider geht es aber noch etwas durcheinander, wenn endgültige Geburtenrate und zusammengefasste Geburtenziffer gleichzeitig dargestellt werden sollen. So schreibt etwa die Welt heute, dass die endgültigen Geburtenraten vermutlich weiter sinken werden, während sie noch gestern Daten zeigte, denen zufolge sie steigen sollen.

Hm. Da mein Kind neben mir sitzt und mir klar zu verstehen gibt, dass meine Hauptaufgabe gerade nicht darin besteht, dem medialen Berichterstattungswirrwarr in Sachen Geburtenziffern hinterherzuschreiben, unterdrücke ich den Reflex, richtig zu stellen, wie es sich mit den Geburtenraten verhält. Das mache ich nach der Vaterzeit lieber in Ruhe gründlich.

Stattdessen veröffentliche ich hier einen Text von mir, den ich ursprünglich im Jahr 2010 unter dem Titel „Wir Tiere“ für den Freitag verfasst hatte. Der Freitag hatte mich damals gebeten, etwas zu der Frage zu schreiben, ob Kinderkriegen heute noch natürlich sei (denn in der Demografie-Debatte scheint es ja so, als würde es immer seltener und unnatürlicher). Meine Antwort war eindeutig: Ja, es gibt kaum etwas natürlicheres als Kinderkriegen. Wir sehen das nur kaum noch. Als der Artikel dann unter dem Titel Ökonomie des Familienglücks erschien, war einiges geändert und gestrichen worden, was mir in der Urversion wichtig erschienen war.

Darum stelle ich hier die Urversion ein. Quasi als Lesestück, das das ganze Geburtenratengerede einmal aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet. Ich habe den Originaltext nur leicht angepasst, wo er mir inzwischen unverständlich erschien. Die Daten entsprechen noch dem Stand von 2010.

Viel Spaß beim Lesen und bis bald in diesem Blog!

Wir Tiere

„Kinder kriegen die Leute immer“, sagte Konrad Adenauer – und erntete dafür posthum Unverständnis satt. Scheint doch heute klar, dass die Geburtenraten ins Bodenlose stürzen. Die Kinderlosigkeit hingegen schnellt in vermeintliche Höhen, und mit ihr der Unwille der jungen Generation, überhaupt noch Babys in die Welt zu setzen. Gleichzeitig adelt der Nobelpreis die künstliche Befruchtung im Reagenzglas. Ist das Kinderkriegen, fragen Medien und Politik, inzwischen von der natürlichsten zur unnatürlichsten Sache der Welt geworden?

Es spricht Bände über die Oberflächlichkeit des öffentlichen Diskurses, dass niemand merkt, wie absurd diese Frage ist. Natürlich hat Adenauer Recht. Wir müssen uns heute allerdings fragen: Wie konnten wir zu glauben beginnen, der Mensch sei so wenig tierisches Produkt der Evolution, dass er aufhören würde, sich fortpflanzen zu wollen? In den richtigen Kontext gesetzt, ist nichts so normal wie die momentane Entwicklung der Fertilität. Nur war das Thema in der öffentlichen Debatte schon immer von Mythen und Missverständnissen geprägt.

Das geht bei den Daten los. So kann keine Rede davon sein, dass die Geburtenrate in Deutschland immer weiter sinkt. Seit 40 Jahren ist sie nahezu konstant, bei durchschnittlich etwas weniger als 1,4 Kindern pro Frau. Im Osten stürzte die Ziffer nach der Wende zwar ab auf ein historisches Tief von 0,77 Geburten. Seitdem steigt sie aber wieder, und hat dieses Jahr den Wert im Westen überholt.

Ohnehin sind solche Geburtenraten nur aktuelle Näherungswerte, mathematisch geschrumpft, weil Frauen seit Jahrzehnten immer später gebären. Wie viele Kinder eine Frau wirklich bekommen hat, lässt sich erst sagen, wenn sie etwa 45 Jahre alt ist. Der 1965er Jahrgang brachte in Westdeutschland 1,52 und im Osten 1,60 Kinder zur Welt. Diese endgültige Rate lag bisher für jeden Jahrgang im Osten höher als im Westen.

Hätten es diese moderateren Zahlen in die deutsche Demografie-Debatte geschafft, hätten allerdings auch sie vermutlich zu apokalyptischen Kassandrarufen geführt. Und zur Verbreitung der Vorstellung, Frauen in Deutschland würden unnormal wenig bekommen. Auch 1,52 oder 1,60 Kinder pro Frau liegen schließlich noch unter dem Bestandserhaltungsniveau, den 2,1 Kindern pro Frau, für die jede Generation die ihrer Eltern zahlenmäßig ersetzt. Und darum sollten – so die gängige Denkweise – die deutschen Frauen diese 2,1 Kinder doch bitteschön gebären, besser mehr, damit die deutsche Bevölkerung wieder wächst. Früher ging das doch auch. Nicht nur qua völkischem Parteibuch ewig-gestrige Politiker suchen in der früher höheren Fertilität nach einem Normal der Geburtenneigung. Die Vorstellung ist der ganzen Debatte immanent. Da wird von „fehlenden“ Kindern gesprochen, von einem Geburten“defizit“ und davon, dass wir wieder „aufholen“ müssen.

Es gibt kein dauerhaftes „normal“ in der Demografie

Das ist nicht nur gefährlich, das ist auch unsinnig. Die Geburtenrate sank in Deutschland mit kurzen Unterbrechungen seit 1880. Fast Hundert Jahre lang war also ein Immer-weniger die Norm. Und während zwar kaum jemand die 4,8 Geburten pro Frau, die noch zur Reichsgründung 1871 Durchschnitt waren, heute als normal bezeichnen würde, waren auch sie es durchaus.

Weil damals mehr Kinder und Jugendliche starben, lag das Bestandserhaltungsniveau noch bei 3,5. Die Geburtenziffer überragte die Reproduktionsmarke somit nur um etwa ein Drittel. Heute liegt sie knapp ein Drittel darunter. Demografen würden beides nicht für ungewöhnlich halten. Normal ist für sie vor allem, dass Bevölkerungen dynamische Gebilde sind, die sich ständig verändern. Weil sie leben. Die Rahmenbedingungen dieses Lebens – staatlich-institutionell sowie kulturell – passen sie in ihrem Entwicklungsprozess laufend selbst an. Die Reproduktion ist darin immer rational, oder: immer normal. Auch wenn sie zu weniger oder gar keinen Kindern führt.

Eine solch differenzierte Sicht macht natürlich keine Schlagzeilen. In den Schlagzeilen sterben stattdessen ganze Nationen aus, weil die Geburtenraten nun schon länger unter dem Bestandserhaltungsniveau verharren, als die kollektiven Redaktionserinnerungen zurückreichen. Für Wissenschaftler sind die derzeit etwas niedrigeren Geburtenraten per se eher wenig alarmierend. Sie treibt um, dass die Menschen in fast allen entwickelten Ländern inzwischen weniger Kinder bekommen, als sie sich wünschen: nämlich ziemlich stabil zwei oder mehr.

Weltweit arbeiten sich Demografen darum an einer Forschungsfrage ab, die in ihrer negativen Formulierung den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat, um dort missverstanden zu werden: Warum bekommen wir so wenige Kinder? Die viel spannendere, positiv formulierte Frage ging dabei unter: Warum kriegen wir überhaupt welche?

Die Antwort der Wissenschaft ist erstaunlich simpel: Kinder kriegen die Leute immer. So besagt es die einflussreichste unter den Fertilitäts-Theorien, die „New Home Economics“ aus den 1960ern. Ihr zufolge ist die Entscheidung für Nachwuchs das Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Kalküls der potenziellen Eltern. Pro Kinder spricht dabei ihr „Nutzen“. Dass Kinder diesen Nutzen, besser ausgedrückt als Lebensglück, bringen, wird in der Theorie einfach postuliert. Es ist halt so.

Zu einfach, um wahr zu sein? Dafür sind die ökonomischen Theorien zu erfolgreich. Sie erklären, woran in der modernen Gesellschaft die Erfüllung der Kinderwünsche scheitert: An empfundenen Einschränkungen, genannten „Kosten“, die so hoch sind, dass sie das erhoffte Glück durch Kinder übertreffen. Solche Kosten können direkte Ausgaben sein, etwa für Kinderbetreuung. Oder etwa durch Mutterschaft entgangenes Geld, das Frauen jetzt oder später während ihrer Karriere verdienen könnten, wenn sie kinderlos blieben.

Kinder lohnen sich oft glücksökonomisch nicht

Fazit: Kinder lohnen sich oft glücksökonomisch nicht. Das schien sogar ein weltweiter Trend zu sein, wie ein globaler Reichtum an Daten nahe legte: Je reicher ein Land, desto niedriger seine Geburtenraten. Das passt zur ökonomischen Theorie: Je mehr verdient wird, desto kleiner der Anreiz, Lebensenergie in Kinder statt in Verdienst zu investieren. Das klingt realistisch. Darum muss es aber nicht immer so bleiben.

Tatsächlich scheint sich der Trend gerade umzukehren. Das stellten unlängst Bevölkerungsforscher fest, als sie die Geburtenraten verschiedener Nationen mit deren Human Development Index (HDI) verglichen, einem Maß für Wohlstand und Entwicklung: In Ländern wie Deutschland, Schweden oder den USA, die ein bestimmtes Wohlstandsniveau überschritten haben, steigt die Nachwuchsziffer mit wachsendem HDI inzwischen wieder an. Das Gleiche zeigt sich im Zeitverlauf: Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ziehen die Geburtenraten in Europa seit einigen Jahren wieder an. Die Talsohle ist durchschritten.

Was geschieht da gerade? Der Nutzen der Kinder bricht sich Bahn, hat an Kraft gewonnen gegenüber den mächtigen Kosten. Dass er lange so unterlegen war, ist kein Wunder. Schließlich hat er historisch stetig abgenommen, während Kinder ihren Eltern immer weniger als lebende Rentenversicherung nutzten, die sie im Alter mit Essen und einem Dach über dem Kopf versorgte.

Irgendwann war der direkte wirtschaftliche Nutzen weg. Stattdessen war und ist da Orientierungslosigkeit in einer Zeit der Umorientierung. Welchen psychologischen Wert Kinder an sich haben, müssen die ganze Gesellschaften offenbar erst langsam fühlen lernen. Und wir finden es inzwischen befremdlich, dem Tier in uns nachzuspüren, das sich in den meisten von uns fortpflanzen will und es immer schon wollte.

Der Drang zur Reproduktion ist nicht tot zu kriegen

Der Drang zur Reproduktion mag schon oft wegdiskutiert worden sein. Tot zu kriegen ist er trotzdem nicht. Familiensoziologen glauben inzwischen, dass nichts in der institutionalisierten Gesellschaft solches Glück bescheren kann, wie die Beziehung zum eigenen Kind. Ob unter Kollegen oder Freunden, immer spielen wir bloß von anderen erwartete Rollen. Gegenüber dem eigenen Kind nicht. Es reagiert authentisch auf uns, unverfälscht. In ihm können wir noch unsere eigene Identität spiegeln. Nirgendwo sonst.

Es spricht einiges dafür, dass dies ein elementares Grundbedürfnis ist. Ein überlebenswichtiges sogar. Um in einer komplexer werdenden Welt handlungsfähig zu bleiben, müssen wir als freie Menschen entscheiden können – nicht als Schubladendenker. Wo, außer in der Familie, in der der Mensch als er selbst und als Ganzes akzeptiert wird, gibt es den Raum, das zu lernen? Wenn wir ehrlich sind: Eigentlich nur dort. Darum ist die Familie Hort und Brutstätte für funktionierende, menschliche Gesellschaften der Zukunft. Und das merken und wollen wir.

Ist Kinderkriegen also natürlich? Absolut. Auch wenn es durch allerlei Widrigkeiten, also Kosten, oft verdeckt wird. Wie viel Glück könnten wir erfahren, wenn sie endlich sänken? Wenn genug Kitas geschaffen und den ganzen Tag geöffnet blieben, wenn Arbeitszeiten und -formen Vätern und Müttern mehr und gleichen Freiraum für Kinder gäben, und wenn die Männer endlich begriffen, was es bedeutet, ihre modernen Frauen wirklich gleichberechtigt zu unterstützen? Betreiben wir doch ein Bisschen Kostensenkung. Und verhelfen der Natürlichkeit zum Durchbruch.

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