9. März 2012, 16:47  2 Kommentare

Hundert Jahre Glück

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Babys, die heute in Deutschland geboren werden, haben eine Chance von mindestens 50 Prozent, Hundert Jahre alt zu werden. Sie erwartet ein langes und gesundes Leben. Wie werden sie es verbringen wollen?
Babys, die heute in Deutschland geboren werden, haben eine Chance von mindestens 50 Prozent, Hundert Jahre alt zu werden. Sie erwartet ein langes und gesundes Leben. Wie werden sie es verbringen wollen?

Der demografische Wandel ist eine riesige Chance. Um sie nutzen zu können, müssen wir bereit sein, Visionen von einer besseren Zukunft zuzulassen. Auch wenn sie bedeuten, die uns gewohnte Gesellschaft und ihre Systeme grundlegend zu verändern. Die Perspektive dieser Visionen muss die der künftig Hundertjährigen sein, die jetzt geboren werden. Über die Rente mit 67 würden sie gar nicht reden. Sie ginge ihnen längst nicht weit genug.

(Der folgenden Artikel ist auch auf den Seiten des Fortschrittsforums erschienen, der Debattenplattform des gleichnamigen politischen Zirkels, der die Frage diskutiert, wie wir das Leitbild „Fortschritt“ verstehen bzw. wie wir leben wollen. Für den Text erhalte ich ein Honorar von der Friedrich-Ebert-Stiftung.)

Wir haben das Glück vor Augen und sehen es nicht. Nehmen wir die Debatte um die Rente mit 67. Vielen, vor allem aus dem linken Teil des politischen Spektrums, gilt sie als Ende der sozialstaatlichen Menschlichkeit, als unzumutbarer Irrsinn, und entsprechend wird dagegen argumentiert, polemisiert und ideologisiert. Dabei ist das, was dahinter steckt, wirklich ein Glück: ein immer längeres und gesünderes Leben.

Ich empfehle ein Experiment: Sagen Sie einmal laut die Wahrheit: Dass es bei der Rente mit 67 natürlich nicht bleiben wird, sondern dass die Altersgrenze in Zukunft selbstverständlich mit der Lebenserwartung weiter steigen wird. Und dass das zum Wohl nicht nur der sogenannten Alten sondern der ganzen Gesellschaft sein wird, wenn wir es schlau angehen.

Sie werden Beschimpfungen ernten und Zornattacken, sowohl ober- als auch unterhalb der Gürtellinie. Und jede Menge Unverständnis. Dieses Unverständnis zieht sich durch die gesamte Diskussion über den demografischen Wandel. Den betiteln wir – irrtümlich – als „Alterung“ der Gesellschaft, und er gilt uns als erdrückendes Problem, als Last. Ein ganzes Land fühlt sich, als stünde es mit dem Rücken zur Wand angesichts einer drohenden demografischen Lawine.

Politische Antworten sind ungebündelt, kurzfristig gedacht und gelten als Abwehrmaßnahmen. Nicht aber als die Basis einer neuen, zukunftsfähigeren und besseren Gesellschaft. Wir diskutieren völlig falsch. Nämlich statisch: Alles dreht sich darum, wie sehr die Alterung für bestehende Systeme, wie etwa die Sozialversicherung, eine Gefahr ist. Was wir brauchen, ist aber eine dynamische Sichtweise: Wie können wir solche Systeme angesichts des demografischen Wandels verändern, um besser leben zu können? Genau das ist die große Chance des demografischen Wandels.

Wir müssen begreifen, wie lang unser Leben ist

Wir haben immer noch nicht wirklich begriffen: Uns erwartet nicht nur ein längeres, sondern auch ein längeres gesundes Leben. Dies ist keine Last, sondern eine der größten Errungenschaften der modernen Zivilisation. Allein im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um etwa 30 Jahre. Heute erwartet ein hier geborenes Mädchen eine Leben von fast 83 Jahren.

Dieser statistische Wert geht allerdings davon aus, dass sich die gesundheitlichen Bedingungen nicht weiter verbessern. Das ist unrealistisch. Selbst wenn man den Fortschritt konservativ extrapoliert, kommt man zu einem beeindruckenden Ergebnis, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock ausgerechnet haben: Ein heute in Deutschland geborenes Baby hat mindestens eine 50:50-Chance, hundert Jahre alt zu werden. Die Kinder, die heute (heute!) auf den Geburtsstationen liegen, sind bereits die Bürger einer Gesellschaft der Hundertjährigen.

Die Forschung zeigt auch: Mit der Lebensspanne nimmt nicht etwa der Lebenszeit-Anteil in seniler Greisenhaftigkeit zu. Denn grob gesprochen ist ein heute 65-Jähriger so fit wie noch 1970 ein 55-Jähriger (oder ein 75-Jähriger wie ein damals 65-Jähriger). Das Alter wird also immer aktiver und agiler. Und Alte können (und wollen) gesellschaftlich mehr Verantwortung übernehmen als früher. Letztlich ist jemand mit 60 heute gar nicht mehr „alt“. Unsere Begriffe stimmen nicht mehr. Mit dieser Einsicht verliert der demografische Wandel sofort eine Menge seines vermeintlichen Schreckens.

Doch was nun? Es gilt, die Tatsache, dass wir immer gesünder alt werden, in handfeste Politik umzusetzen. Es ist überhaupt keine Frage: Dazu gehört, die Pensionsgrenze so lange weiter anzuheben, wie die Lebenserwartung wächst. Nicht vorrangig deshalb, weil ansonsten – ceteris paribus – das Rentensystem zusammenbräche. Viel wichtiger ist, dass eine starre Altersgrenze den Menschen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird.

Was wollen die Kinder, die künftig Hundertjährigen?

Wir müssen die Perspektive unserer Kinder annehmen, die der künftig Hundertjährigen. Aus ihrer Sicht ist es geradezu albern, spätestens mit 65 (oder 67, das macht für sie kaum einen Unterschied) aus einer Arbeit auszusteigen, die ihnen Lebenssinn gibt, um für die nächsten 35 (oder 33) Jahre auf einem Altenteil zu sitzen, der ihnen keine berufliche gesellschaftliche Teilhabe mehr erlaubt.

Aber was, wenn die Arbeit vielen gar keinen Lebenssinn gibt (und darum eine Belastung ist, die besser früher als später enden sollte)? Nun, dann ist vielleicht das unser Problem. Nicht aber die Erhöhung des Rentenalters. Wir müssen endlich den kraftzehrenden Blockade-Streit darüber beenden, ob am Ende marginale Änderungen wie die Rente mit 67 überhaupt kommen sollen. Wir werden in diesem Jahrhundert viel mehr verändern als das. Wir müssen endlich ernsthaft darüber reden, wie wir diese Veränderungen gestalten wollen.

Wenn unsere 2012 geborenen Kinder schon sprechen können und immer noch fast 100 Jahre vor sich haben, werden sie nicht nach der Rente fragen. Sie werden fragen: Was will ich mit meinem langen Leben anfangen? Wie will ich die mir geschenkte Zeit aufteilen? Bestimmt nicht mehr so wie bisher. Wir brauchen neue Visionen für dieses lange Leben, müssen beginnen, uns neue Geschichten von einer lebenswerten Zukunft zu erzählen. Hier ein Versuch:

Uns erwartet die Umverteilung der Arbeit

Die traditionelle Aufteilung des Lebens in die drei Abschnitte Lernen – Arbeit – Freizeit wird aufbrechen. Künftig werden wir viel länger arbeiten, dafür aber weniger Stunden pro Woche. Viele werden ihre Arbeit sogar mitten im Leben für Monate oder Jahre ganz aussetzen, um sich anderen Dingen zu widmen. Arbeit, Ausbildung, Freizeit und Zeit für Kindererziehung werden sich im Lebensverlauf stark vermischen. Das bedeutet für jeden der Bereiche nicht weniger als kleine Revolutionen.

Die Wirtschaft wird sich darauf einstellen, die Arbeit besser an den Zeitbedürfnissen der Menschen zu orientieren und Vollzeitjobs in großem Stil in Teilzeitjobs umwandeln. Der Staat flankiert dies durch Maßnahmen wie lebenslange Arbeitszeitkonten und fiskalische Anreize. Die Sozialsysteme basieren nicht mehr fast ausschließlich auf Erwerbsarbeit.

Das Bildungssystem ist in 50 Jahren kaum mehr wiederzuerkennen – im positiven Sinn. Lebenslanges Lernen ist vom Schlagwort zur Realität geworden. Universitäten werden von Menschen jeden Alters besucht, und die Arbeitgeber fordern und bezahlen regelmäßige Weiterbildung ihrer Mitarbeiter. Bildung ist die wertvollste Währung in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt.

Da sich die Arbeitszeit gleichmäßiger über das Leben verteilt, sind die Geburtenraten spürbar gestiegen. Junge Menschen haben wieder Zeit für Kinder. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie am Anfang des zweiten Lebensdrittels ist durch Staat und Wirtschaft inzwischen besser umgesetzt als noch 2012 in Schweden. Dass die Freude an Enkeln und Urenkeln über Jahrzehnte bewusst erlebt werden kann, gibt dem Kinderkriegen eine ganz neue Relevanz.

Die Politik hat begriffen, dass nicht nur die Erfüllung von Kinderwünschen, sondern auch die Verteilung der Lebenschancen eines ganzen Jahrhunderts eine Frage der Gleichberechtigung ist: Frauen und Männer besetzen fast paritätisch Führungspositionen und teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit fair auf.

Wir müssen den Wandel wollen

Eine unerfüllbare Vision? Höchstens teilweise. Denn die Menschen in einer modernen Gesellschaften werden sich nicht dauerhaft daran hindern lassen, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen. Dazu gehört, wie wir altern und Kinder bekommen, wie wir leben, lieben und arbeiten.

Wenn das Leben selbst sich so stark verändert wie im demografischen Wandel, dann ist ausgeschlossen, dass sich die gesellschaftlichen Systeme einer ebenso grundlegenden Veränderung langfristig widersetzen. Auch wenn die großen Umbrüche dieses Wandels noch vor uns liegen: er hat längst begonnen. Unsere Verantwortung ist nicht, ihn aufzuhalten. Sondern ihn zu formen. Jetzt.

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Maren Müller März 9, 2012 um 18:27

Ganz schon esoterisch für einen Zahlenmenschen. :-)
Ich kann absolut keinen Glücksfaktor entdecken, wenn in manchen Orten nur noch Rentner umherschleichen. Kein Leben, kein Kinderlachen.
Die Politik (und zwar nicht die Linke) hat in den letzten 20 Jahren auf der ganzen Linie versagt.
Nun kann man in der Tat nur noch gute Miene zum bösen Spiel machen.

Antworten

Björn Schwentker März 12, 2012 um 09:36

Liebe Frau Müller,

danke für Ihren Kommentar.

Ich hatte gehofft, mit meinem Text auszudrücken, dass unser Bild vom Alter und Altern verzerrt ist. Nur dass jemand schon eine große Zahl von Jahren gelebt hat, bedeutet nicht, dass er auch krank und greisenhaft ist. Im Gegenteil: Wir sind im Alter gesund, agil und tatendurstig wie nie. Darum fände ich es auch richtig, die Menschen in höherem Alter noch arbeiten zu lassen.

Auch bei denen, die künftig jenseits 67 in Rente gehen, bezweifle ich, dass sie umherschleichen werden. Ich persönlich bin sehr vorsichtig mit meiner Wortwahl, wenn ich über demografische Gruppen rede, insbesondere über die Älteren. Man wird ihnen damit nicht gerecht.

Ohne es zu wollen, befördert man damit sogar implizit Bilder von einer optimalen Volksstruktur und -gesundheit, die alles andere als linke historische Quellen haben, und die in der demografischen Debatte nichts verloren haben. Dasselbe gilt für die Idee des Aussterbens („kein Leben“) und einer dominierenden Kinderlosigkeit („kein Kinderlachen“). Beides stimmt nicht.

Ich finde es schon erstaunlich, dass die Lebenserwartung seit mindestens 1850 ebenso stark zunimmt wie in den letzten zehn Jahren. Aber ausgerechnet jetzt soll alles mit Alten überschwemmt werden? Auch ist die Geburtenrate der Frauen seit etwa 40 Jahren in etwa gleich geblieben (zumindest im Westen). Aber ausgerechnet jetzt ergreift uns eine schlimme Kinderlosigkeit? Das kommt mir merkwürdig vor.

Ich erlebe oft, dass die Situation an bestimmten Orten mit einem generellen Trend im demografischen Wandel verwechselt wird. So wird es nicht schwer fallen, in den neuen Bundesländern Orte zu finden (in den alten übrigens auch), in denn tatsächlich sehr viel mehr alte als junge Menschen leben. Der Hauptgrund dafür ist allerdings die selektive Abwanderung der Jungen aus diesen Gebieten, nicht die Alterung oder die Geburtensituation. Das Leben ist woanders hingezogen. Es ist aber nicht weg.

Das Leben ändert sich, aber es bleibt.

Viele Grüße
Björn Schwentker

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