Seit Montag (12.12.2011) übertreffen sich die Medien darin, unhinterfragt die Falschmeldung zu verbreiten, die Lebenserwartung von Geringverdienern sei seit 2001 gesunken. Nicht nur die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE, die diese Nachricht in die Welt gesetzt hat, sondern auch die Journalisten übersehen dabei, dass sie die Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV), mit denen sie argumentieren, völlig falsch interpretieren. Offenbar versteht niemand, was er da überhaupt schreibt oder sendet.
Das vermeintliche Sinken der „Lebenserwartung“ ist ein rein statistisches Artefakt; tatsächlich steigt die Lebenserwartung auch für Geringverdiener. Die Medien haben sich hungrig auf die politisch brisante Meldung der LINKEn gestürzt, und die Daten nicht im Ansatz ausreichend nach-recherchiert, die ihnen zum Fraß vorgeworfen wurden. Dieser Artikel erklärt, wo die Interpretationsfehler liegen, und warum bekannt ist, dass die Lebenserwartung für alle Einkommensklassen in Deutschland bis mindestens 2006 steigt.
Alles ging damit los, dass die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE auf ihrer Website eine Pressemeldung veröffentlichte, in der es heißt:
… ihre Lebenserwartung (die der Geringverdiener) hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht etwa erhöht, sondern um zwei Jahre, im Osten sogar um fast vier Jahre verringert.
Die Saarbrücker Zeitung reagierte zuerst und lieferte gleich konkrete Zahlen mit: 2001 seien die Geringverdiener nach Aussagen der Linksfraktion noch durchschnittlich 77,5 Jahre alt geworden, 2010 aber nur noch 75,5 Jahre. In Ostdeutschland sei die Entwicklung noch dramatischer gewesen: Dort sei die Lebenserwartung von 77,9 auf 74,1 Jahre gesunken. Viele Medienportale und Sender folgten mit ähnlichen Meldungen, am Folgetag las man in den Zeitungen engagierte Kommentare zum anscheinen akzeptierten Fakt, dass die Lebenserwartung der Armen erstmals entgegen dem allgemeinen Trend gesunken sei.
Offenbar hat niemanden stutzig gemacht, dass es bisher keinerlei wissenschaftlichen Zweifel daran gab, dass die Steigerung der Lebenserwartung in Deutschland seit mindestens 150 Jahren (die Zeit der Weltkriege ausgenommen) eine Erfolgsgeschichte sondergleichen ist, die alle Bevölkerungsgruppen erfasst. Richtig ist zwar, dass die Reicheren länger leben als die Ärmeren, und dass die Lebensspanne der einen zuweilen schneller wächst als die der anderen. Davon, dass sie für irgendeine Einkommensgruppe langfristig rückläufig war, kann aber nicht die Rede sein (von kurzfristigen statistischen Schwankungen abgesehen).

Wie konnte DIE LINKE die Republik trotzdem vom Gegenteil überzeugen? Vielleicht, weil sie sich auf eine seriöse Quelle beruft: Sie argumentiert nämlich mit an sich korrekten Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV). Sie stammen aus einer Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der LINKEn mit dem Titel „Rente erst ab 67 – Risiken für Jung und Alt“ (Drucksache 17/7966). Kämpft man sich in dem Dokument bis zu Tabelle 11-02 auf S. 97 des PDFs vor, sieht man tatsächlich die Zahlen vor sich, die als „Lebenserwartung“ der Geringverdiener für Gesamtdeutschland in der Saarbrücker Zeitung standen – auch wenn ihre Bedeutung wenig mit einer Lebenserwartung zu tun hat.1 Man kommt auf das allseits medial wiedergekäute Sterbealter von 77,5 Jahren für 2001 und auf 75,1 Jahre für 2010, wenn man für 0,5-0,75 durchschnittliche Entgeltpunkte pro Versicherungsjahr2 (siehe erste Spalte) die entsprechende "durchschnittliche Rentenbezugsdauer ab 65 Lebensjahren" mit 65 addiert.
1. Interpretations-Fehler: Nur die Toten gezählt
Das ist aber keine Lebenserwartung. Das ist lediglich das Durchschnittsalter der männlichen Rentner (die Frauen haben die LINKEn außen vor gelassen), die nach einem Arbeitsleben mit mindestens 35 Versicherungsjahren (nur solche Männer stehen überhaupt in dieser Tabelle) im betreffenden Jahr verstorben sind, nachdem sie mindestens den 65sten Geburtstag noch erlebt hatten. Das ist zum einen eine ziemlich spezielle Gruppe. Für die Irrelevanz des Sterbealters noch wichtiger ist: Dies ist eine Gruppe von lauter Toten. Allein aus dem Todesalter von Verstorbenen lässt sich keine Lebenserwartung berechnen. Genauso gut könnte man versuchen, die Gewinnquote im Lotto zu bestimmen, wenn man nur die Gewinner kennt, nicht aber die viel größere Zahl der Verlierer. Um eine Lebenserwartung berechnen zu können, braucht man das Überlebens- bzw. Sterberisiko einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Und das lässt sich nur ermitteln, wenn man neben den Verstorbenen auch die Überlebenden kennt. Die sind aber in den Tabellen der DRV nicht enthalten.
Leider ist die Lebenserwartung, obwohl so leichtfertig diskutiert, mitnichten ein simpler Wert. Die Lebenserwartung bei Geburt, die die Medien meistens meinen, wenn sie von der „Lebenserwartung“ schreiben, ergibt sich aus einer recht langen Summenformel (berechnet über die sogenannte Sterbetafel), in die für alle Altersgruppen von Null bis 100 Jahre und darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit eingeht, das nächste Lebensjahr zu erleben. Diesen Informationsgehalt haben die Daten der DRV, die die LINKEn heranziehen, überhaupt nicht. Das aus den DRV-Tabellen ablesbare Sterbealter als „Lebenserwartung“ zu bezeichnen, ist keine im politischen oder medialen Alltag verzeihbare Vereinfachung. Es ist schlicht und einfach Nonsens.
2. Interpretations-Fehler: Änderungen der Gruppenstruktur ignoriert
Anmerkung vom 21.12.2011, 17:04 Uhr: Ich habe den folgenden Abschnitt komplett überarbeitet, weil er zuvor nicht völlig korrekt war. Die Überarbeitung ändert nichts an der Kernaussage, dass die Berechnung der LINKEn falsch ist und die Lebenserwartung aller Einkommensklassen zumindest bis 2006 steigt.3
Vernachlässigt man einmal, dass die DRV-Sterbealter eigentlich keine gültige Lebenserwartungen sind (was man eigentlich nicht darf!), so könnte man die Frage stellen: Lässt sich an den Daten nicht vielleicht doch ein Trend ablesen? Schließlich sanken die DRV-Sterbealter ja tatsächlich in den letzten Jahren. Trotzdem ist eine solche Interpretation nicht möglich. Die betroffenen Altersgruppen, aus denen die Toten in den DRV-Daten stammen, haben sich von 2001 bis 2010 so stark vergrößert, dass völlig unklar ist, ob man diese Gruppen überhaupt noch miteinander vergleichen kann. Wie sehr sie gewachsen sind, lässt sich den Daten zwar nicht entnehmen, denn es fehlen ja die Überlebenden. Doch man kann das Ausmaß der Veränderung am extremen Anstieg der Todeszahlen ablesen: 2001 starben 7.759 Rentner im Alter über 65 Jahre, 2010 waren es 14.570.
Hat eine Gruppe eine solch starke Dynamik, kann sich ihre Struktur derart verzerren, dass man ihre Maßzahlen (etwa zur Sterblichkeit), nur über die Zeit vergleichen kann, wenn man die Verzerrungen statistisch herausrechnet. Das tun die LINKEn aber nicht. Sie können es auch gar nicht, denn die dafür nötigen Strukturdaten der betrachteten Gruppe liegen in den DRV-Tabellen gar nicht vor. Das bedeutet gleichzeitig, dass sich höchstens spekulieren lässt, welcher Art die Strukturverzerrungen sind. (Dass es welche geben muss, zeigt sich daran, dass das Sterbealter nach Berechnungsmethode der LINKEN nicht nur bis 2010 abnimmt, sondern auch schon von 2001 bis 2006. Für diesen Zeitraum allerdings gibt es eine wissenschaftliche Veröffentlichung (s.u.), die mit korrekter Berechnungsmethode das Gegenteil beweist: Die Lebenserwartung für Geringverdiener steigt.)
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) vermutet, dass sich zwischen 2001 und 2010 unter anderem die Altersstruktur verändert hat. In einer Sprachregelung für die Presse gab sie am 12.12.2011 bekannt:
Festzuhalten ist jedoch, dass der ermittelte Wert (…) auf einer sehr geringen Fallzahl beruht und daher aus statistischer Sicht nicht als Trendaussage interpretiert werden kann. Darüber hinaus sind die ermittelten Werte auch durch Rechtsänderungen und sich im Zeitablauf ändernde Altersstrukturen beeinflusst.
Zu einer Veränderung der Altersstruktur, die das Sterbealter künstlich drücken würde, obwohl die Lebenserwartung tatsächlich wächst, käme es dann, wenn immer mehr junge Alte (knapp über 65) in Rente gingen, und so gegenüber den bereits verrenteten älteren Pensionären zahlenmäßig deutlich an Gewicht gewönnen. Der Effekt lässt sich gut an einer fiktiven, sehr einfachen Beispielkonstellation von Rentnern erklären: Sagen wir, es gäbe immer nur 66-Jährige Rentner (die „Jungen“) und 80-Jährige Rentner (die „Alten“). 2001 war die Mehrheit der Jüngeren noch nicht so stark ausgeprägt, darum nehmen wir einmal an, es seien zwei Rentner mit 66 gestorben und einer mit 80. Das durchschnittliche Sterbealter läge dann für 2001 bei (2 x 66 Jahre + 80 Jahre) / 3 = 70,7 Jahre. Wenn nun die jungen Alten im Verhältnis sehr viel mehr werden, hat die fiktive Rentnergruppe im Jahr 2010 vielleicht plötzlich zehn Tote mit 66 (nicht weil die Sterbewahrscheinlichkeit für jeden einzelnen stiege, sondern weil die Masse der Jungen, die alle einem Sterberisiko unterliegen, so stark gewachsen ist) und zwei mit 80. Das durchschnittliche Sterbealter läge dann bei (10 x 66 Jahre + 2 x 80 Jahre) / 12 = 68,3, also deutlich unter dem von 2001.
Dieses Beispiel mag unrealistisch und an allen Ecken und Enden angreifbar sein, aber der mathematische Effekt ist derselbe wie der, der das Sterbealter in den DRV-Daten sinken ließe – wenn es tatsächlich einen entsprechenden Altersstruktureffekt gibt (Anmerkung vom 29.12.2011, 16:05 Uhr: Dank neuer Zahlen der DRV ist inzwischen klar, dass es eine solche Strukturverzerrung gibt. Ich habe die Daten in einem separaten Post veröffentlicht). Für solche strukturellen Verzerrungen spricht, dass der von den LINKEn berechnete Rückgang des Sterbealters nicht nur immer größer wird, je niedriger die Entgeltgruppe ist. Gleichzeitig nimmt auch der prozentuale Zuwachs der Fallzahlen – und damit eine mögliche Verzerrung – zu. Wo die Fallzahlen sich wenig ändern (wo es also potenziell weniger Verzerrung gibt), nämlich in den höheren Entgeltgruppen, steigt das Sterbealter.
In welcher Art genau sich die Gruppenstruktur der gering verdienenden Rentner wirklich verändert hat, lässt sich erst sagen, wenn die dafür nötigen Daten der Rentenversicherung komplett analysiert worden sind. Nötig wären dazu unter anderem die Altersverteilungen aller verstorbenen sowie aller überlebenden Rentner im Alter ab 65 Jahre für jedes der Jahre von 2001 bis 2010.
Spätestens jetzt sollte man sich aber klar in Erinnerung rufen: Die von den LINKEn angestellte Berechnung des Sterbealters ist ohnehin nicht aussagekräftig im Vergleich zu einer korrekt bestimmten Lebenserwartung, die ein nachvollziehbares, transparentes Standardmaß in der Demografie ist. Insofern liegt die Beweispflicht in Sachen Sterbealter klar bei den LINKEn: Sie müssten vorrechnen (unter Berücksichtigung sämtlicher Strukturdaten), dass ihr Sterblichkeitsmaß valide ist – und ansonsten ihre Aussage öffentlich zurücknehmen. Würde ihr Vorgehen Schule machen, könnte sonst jede politische Partei, ob links oder rechts, einfach irgendwelche offiziellen Zahlen zu einem ihm genehmen Signalwert zusammenrechnen und damit politische Forderungen aller Art begründen. Kriterium für solch einen Signalwert wäre dann nicht, ob er wahr und valide ist, sondern einzig, dass die Öffentlichkeit ihn nicht nachvollziehen kann (und darum die daran geknüpfte Botschaft glaubt).
Dies alles zeigt zwar, wie verkehrt und gefährlich es ist, aus den an sich korrekten DRV-Daten den Schluss zu ziehen, die Lebenserwartung der Geringverdiener sinke. Leider beweist es aber nicht das Gegenteil, nämlich dass sie steigt. Um das herauszufinden, bedarf es wesentlich mehr Daten aus der Rentenversicherung, mit denen sich echte Lebenserwartungen bestimmen und Altersstrukturverschiebungen herausrechnen lassen.
Zumindest bis 2006 steigt die Lebenserwartung der Geringverdiener
Mir ist keine Veröffentlichung bekannt, die das anhand der jüngsten Daten bis 2010 durchgerechnet hätte. Allerdings gibt es eine, die Ergebnis bis 2006 liefert, also weit in den von den LINKEn betrachteten Zeitraum hinein: Den Artikel Zum Trend der differentiellen Sterblichkeit der Rentner in Deutschland aus der Reihe der DRV-Schriften. Die Autoren haben für die Jahre von 1994 bis 2006 die sogenannte fernere Lebenserwartung im Alter 65 (also grob gesprochen die im Durchschnitt ab dann noch zu lebenden Jahre) für Männer ausgerechnet.

Das Ergebnis: In allen der zehn Einkommensgruppen, in die die Autoren die Rentnerschaft im Alter ab 65 einteilen („Dezile“ in der Grafik), steigt die Lebenserwartung. Zwar gibt es in einzelnen Jahren Schwankungen (etwa einen Rückgang im Jahr 2003, für den der Hitzesommer verantwortlich sein könnte). Aber im Trend ist die Steigerung stabil. So liegt die verbleibende Lebenserwartung für das dritte Dezil, das mit dem Einkommensbereichs überlappen dürfte, den die LINKEn als geringen Verdienst bezeichnen, 1994 bei etwa 13,5 Jahren und 2006 schon bei 15. Auf die Zeit von 2001 bis 2006 entfällt dabei ein Anstieg von etwa 0,4 Lebensjahren. (Im Vergleich dazu sinkt das Sterbealter in den DRV-Daten der LINKEn im gleichen Zeitraum um 0,4 Jahre.)
Dass sich das Leben der Geringverdiener auch nach 2006 weiter verlängert hat, ist zu erwarten. Sicher weiß man es aber erst, wenn jemand mit wissenschaftlich korrekter Methode und allen notwendigen aktuellen Daten der DRV nachgerechnet hat. Bis es soweit ist, sollten Politiker und Medien sich mit weiteren unhaltbaren Behauptungen zurückhalten. Sie sind jetzt schon mehr als peinlich.
- Die Zahlen für die ostdeutschen Männer finden sich in Tabelle 11-08 auf S. 103 des PDFs. [↩]
- Diese Gruppe haben die LINKEn als „Geringverdiener“ ausgewählt; per Definition des Entgeltpunktkonzepts verdienen alle Rentner mit einer Ziffer <1 weniger als der Durchschnitt. [↩]
- Vor dem 21.12.2011, 17:04 Uhr, lautete dieser Abschnitt: „2. Interpretations-Fehler: Änderungen der Altersstruktur ignoriert
Vernachlässigt man einmal, dass die DRV-Sterbealter eigentlich keine gültige Lebenserwartungen sind, so könnte man die Frage stellen: Lässt sich an den Daten nicht vielleicht doch ein Trend ablesen? Schließlich sanken die DRV-Sterbealter ja tatsächlich in den letzten Jahren. Trotzdem ist eine solche Interpretation nicht möglich. Denn sie ignoriert, dass sich die Altersstruktur der Rentner in den letzten Jahren dramatisch verändert hat: Weil die Lebenserwartung für alle steigt, nimmt die Zahl der Rentner in jedem Alter zu. Die der jüngeren Alten, die knapp über 65 sind, wächst aber derzeit sehr viel stärker als die der älteren. Denn seit einigen Jahren kommen die starken Jahrgänge der Babyboomer ins Rentenalter. Das führt mit mathematischer Zwangsläufigkeit dazu, dass das aus den DRV-Daten berechnete Sterbealter der Rentner sinkt, selbst wenn ihre Lebenserwartung in Wahrheit steigt. Der Effekt lässt sich gut an einer fiktiven, sehr einfachen Beispielkonstellation von Rentnern erklären: Sagen wir, es gäbe immer nur 66-Jährige Rentner (die „Jungen“) und 80-Jährige Rentner (die „Alten“). 2001 war die Mehrheit der Jüngeren noch nicht so stark ausgeprägt, darum nehmen wir einmal an, es seien zwei Rentner mit 66 gestorben und einer mit 80 (von den Alten sterben immer weniger als von den Jungen, weile es davon so viel weniger gibt). Das durchschnittliche Sterbealter läge dann für 2001 bei (2 x 66 Jahre + 80 Jahre) / 3 = 70,7 Jahre. Wenn nun die jungen Alten im Verhältnis sehr viel mehr werden, hat die fiktive Rentnergruppe im Jahr 2010 vielleicht plötzlich zehn Tote mit 66 (nicht weil die Sterbewahrscheinlichkeit für jeden einzelnen stiege, sondern weil die Masse der Jungen, die alle einem Sterberisiko unterliegen, so stark gewachsen ist) und zwei mit 80. Das durchschnittliche Sterbealter läge dann bei (10 x 66 Jahre + 2 x 80 Jahre) / 12 = 68,3, also deutlich unter dem von 2001. Dieses Beispiel mag unrealistisch und an allen Ecken und Enden angreifbar sein, aber der mathematische Effekt ist derselbe wie der, der das Sterbealter in den DRV-Daten sinken ließ – und vermutlich zunächst auch noch weiter sinken lassen wird. Der Altersstruktureffekt ist so groß, dass er die zunehmende Lebenserwartung komplett maskiert. Wie stark die Veränderung der Altersgruppen sein muss (komplett kann man sie den Daten nicht entnehmen, es fehlen ja die Überlebenden), sieht man am extremen Anstieg der Todeszahlen von 2001 bis 2010: 2001 starben 7.759 Rentner im Alter über 65 Jahre, 2010 waren es 14.570. Dies alles beweist zwar eindeutig, dass es völliger Quatsch ist, aus den an sich korrekten DRV-Daten den Schluss zu ziehen, die Lebenserwartung der Geringverdiener sinke. Leider beweist es aber nicht das Gegenteil, nämlich dass sie steigt. Um das herauszufinden, bedarf es noch wesentlich mehr Daten aus der Rentenversicherung, mit denen sich echte Lebenserwartungen bestimmen und Altersstrukturverschiebungen herausrechnen lassen.“ [↩]
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Sehr interessanter Artikel.
Was lehrt uns das!?
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.
Gruß, Winston
Eigentlich nicht – denn die Statistik selbst ist ja durchaus korrekt. Nur die daraus abgeleitete Interpretation ist falsch.
Die Lehre daraus müsste also wohl eher sein: Traue keiner Interpretation einer Statistik, die (also die Interpretation) du nicht selbst hinterfragt hast 😉
Der Spruch stammt nicht von Churchill:
http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Veroeffentl/Monatshefte/PDF/Beitrag04_11_11.pdf
Traue also keinem Zitat, das du nicht selbst gefälscht hast 😉
Interessant, danke für den Link!
naja, daß der spruch nicht von churchill stammen soll, wußte ich ja. aber aus dem artikel läßt sich auch nicht das gegenteil explizit herauslesen – sprich, daß er NICHT von churchill stammt, ist (noch) nicht erwiesen …
somit möchte ich Rumo erweitern: Traue keinem Artikel, der (also dessen Interpretation) du nicht selbst hinterfragt hast.
Danke Björn Schwentker!
Das Ganze ist ja die reinste Lachnummer. Selbst in der FAZ konnte man die Zahlen nicht richtig interpretieren. Es war etwas von einem statisitschen Sondereffekt zu lesen. Ihr Beispiel zeigt es für alle, die die Grundrechenarten beherrschen, wie die Zahlen richtig zu interpretieren sind.
Noch ein Beispiel, um die Sache auf die Spitz zu treiben:
Wenn meine Oma in diesem Jahr sterben sollte (hoffentlich nicht), dann läge das durchschnittliche Sterbealter in unserer Familie in diesem Jahr bei 98 Jahren. Wenn dann im kommenden Jahr ihr jüngster Urenkel sterben würde (hoffe ich noch weniger), würde das durchschnittliche Sterbealter dramatisch auf ein Jahr fallen. Daraus schließen, dass die Lebenserwartung aller anderen Familienmitglieder von 98 auf ein Jahr gefallen wäre, könnte wohl nur jemand, dem das hervorragend ins politische Kalkül passen würde.
Gruß
Guido Lingnau
gesetzt den fall, dass sich die altersstruktur in aehnlicher weise bei den mehrverdienern niederschlaegt (was eine frage fuer sich ist): fuehrt der vergleich der gegenläufigen entwicklung der rentenbezuege nicht zu einem aehnlichen urteil wie bei der LINKEn (ohne die interpretation zu nehmen, dass sich die „lebenserwartung“ verringert hat?
meint: die unterschiede in der lebenserwartung zwischen den gruppen werden immer groesser. (das ist zwar keine aussage ueber die „absolute“ „lebenserwartung“ – aber es verdeutlicht dennoch die aussage, dass die sozialen unterschiede zunehmend krasser wirken)
Lieber Herr Koenitz,
die Sterbealter, wie sie die LINKEn benutzen, würde ich lieber gar nicht zur Diskussion heranziehen, weil sie methodisch nicht haltbar sind. Wenn man mit der Lebensspanne argumentieren will, dann sollte man eine korrekt berechnete Lebenserwartung heranziehen. Für die allerdings ist die Veränderung der Altersstruktur egal, weil sie sich darin nicht verzerrend niederschlägt.
Sie können sich aber natürlich die fernere Lebenserwartung ansehen, die Scholz und Schulz von 1994 bis 2006 berechnet haben. Dort sieht es tatsächlich so aus, als vergrößere sich der Abstand zwischen Arm und Reich in der Lebenserwartung. Allerdings weniger, weil der Aufwärtstrend bei den Armen nachlässt, sondern weil die Steigerungen bei den Reichen etwas angezogen haben. Von einem Trend würde ich bei dieser Vergrößerung des Abstandes aber noch nicht sprechen, dazu ist die Zeitreihe zu kurz und die bisher entstandene Vergrößerung des Abstandes ist zu klein. (Was nicht heißt, dass es einen echten Trend nicht gibt. Es heißt nur, dass man erst valide Untersuchungen braucht, um ihn zu belegen.)
Selbst wenn sich solch ein Trend herausstellen sollte, scheint mir allerdings Vorsicht geboten. Der Demograf Eckart Bomsdorf von der Uni Köln hat gerade in einem Interview gewarnt, dass der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung nicht unbedingt monokausal sein muss, und dass in der Wissenschaft noch keine Einigkeit über das Wechselspiel von Einkommen, Gesundheit und vielen anderen Faktoren besteht, siehe http://bit.ly/uY8I46.
Ich halte es für sehr wichtig, zwei Dinge zu trennen: Zum einen das, was Daten und die wissenschaftliche Analyse mit (großer) Sicherheit belegen. Und zum anderen das, was man politisch will – möglicherweise ganz unabhängig von Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Sorry Leute,aber ich finde den Artikel etwas seltsam.Aufgrund der Sterbealter kann man,zumindest für die Vergangenheit belegbare Werte eruieren.Zusätzlich sehe ich die Niedriglöhner in unserer Firma, die immer die Jobs bekommen die,ich drücke es mal polemisch aus,am dreckigsten und der längeren Lebenserwartung nicht gerade dienlich sind.Dazu die psychische Belastung und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Gesundheit.Hier im Blog wird es kaum Leute geben die sich vorstellen können wie es ist Monat für Monat,Jahr für Jahr in völliger Unplanbarkeit zu verbringen.Ich kann es auch nicht,aber zumindest sagt mir die Logik dass sowas höchstwahrscheinlich zum früheren Ableben führt.Bisher konnte mir dies auch kein Statistiker widerlegen.
Lieber Herr Heimbs,
sorry, aber man kann sich nicht gegen die Zahlen stemmen. Aus dem Sterbealter allein lässt sich nichts ablesen. Nach allen Daten, die wir haben, nimmt die Lebenserwartung für alle zu. Das mag einem passen oder nicht.
Etwas Anderes, davon Unabhängiges, ist aber trotzdem wahr: Die Armen sterben früher. Das hat bestimmt auch viel mit deren Arbeitsleben zu tun, keine Frage. Und ja, das schreit zum Himmel und verlangt nach Handeln. Aber eine Politik, die diese Handlung mit falschen Zahlen zu einer angeblich stagnierenden oder sinkenden Lebenserwartung der Geringverdiener belegen will, lügt. Sie tut sich selbst keinen Gefallen.
Gerechtigkeit ist etwas, das wir per se einfordern sollten. Nicht wegen irgendwelcher vermeintlicher demografischer Daten.
Beste Grüße
Björn Schwentker
Die Entgeltpunkte 0,5-0,75 sind doch unter dem Durchschnitt.
Wieso dann das 7. Dezil, das über dem Durchschnitt liegt?
Lieber Markus,
danke fürs aufmerksame Lesen und den Hinweis. Da habe ich in der Tat einen Fehler gemacht – man sollte nach Mitternacht nicht mehr über so komplizierte Themen bloggen.
Ich habe es nun im Text so korrigiert, dass ich das 3. Dezil mit den Daten der LINKEn (also Entgeltpunkte 0,5 – 0,75) vergleiche. Das ändert allerdings nichts an der generellen Aussage: Auch für das dritte Dezil steigt die Lebenserwartung von 2001 bis 2006, während das Sterbealter nach Methode der LINKen im gleichen Zeitraum sinkt.
Der Vergleich der Dezile mit der Einkommenseinordnung über die Entgeltpunkte ist immer ein bisschen über den Daumen gepeilt, weil die beiden verschiedenen Maße zu unterschiedlichen Klassen führen.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Ich sehe schon die Meldung der Linken in 2021 vor mir:
Alle Menschen sterben 10 Monate eher als in 2011!
Grund ist hierbei, dass die Rentenbezugsdauer sinkt, da der Rentenbeginn sich verschiebt, wegen der Rente ab 67.
Statistiken in Bezug auf Lebensalter sind meiner Meinung nach sowieso Unfug. Dazu eine kleine Geschichte:
In der Grundschule (lang ists her) hatten wir einen Religionslehrer, der in Psalmen verliebt war. So mussten wir jede Menge Psalmen auswendig lernen. Wir haben nichts verstanden und auch das meiste wieder vergessen. Eine Zeile ist mir aber im Gedächtnis geblieben: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenns hoch kommt, sind es achzig Jahre, und wenns köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“.
Das wird König David zugeschrieben, als etwa 700 vor Christus. Wenn man sich klarmacht, dass die Könige damals eher gewählte Hordenführer waren, ist die Aussage „Unser Leben…“ als pars pro toto zu verstehen. Er meinte wirklich: Alle meine Stammesangehörigen und nicht „die allerältesten Methusalems unserer Gemeinschaft“. Da er keine Versicherungsmathematik betrieb, zählte er natürlich nur diejenigen Personen, die einen natürlichen Tod erlebten. Die wurden also 70, 80 Jahre alt, also so alt wie heutzutage. Aber die Aussage der Statistiker besagt, dass die Lebenserwartung zu jener Zeit kaum 40 Jahre überschritt. Was kann man daraus schliessen? Statistiken in jenem Bereich sind nur für Versicherungen interessant, für die tatsächlichen Lebensumstände sagen sie gar nichts aus.
Doch, tun sie. Denn wie du bereits schriebst, waren damals vermutlich nur natürliche Tode mitgezählt, was heute anders ist. Wenn man in den heutigen Statistiken nur die natürlichen Tode mitzählen würde, wäre die Lebenserwartung bei uns wohl auch höher. Alleinschon wenn man darüber nachdenkt, wie gut ein früh entdeckter Tumor behandelt werden kann, sollte klar werden, dass die Lebenserwartung sich nicht nicht verändert haben kann.
Was ich mit meiner kleinen Geschichte sagen wollte, ist ja gerade, dass die statistische Grösse Lebenserwartung gar nichts über die tatsächliche Lebensspanne aussagt. Wenn man eine Statistik über die Lebenserwartung in Mitteleuropa in den Jahren 1939-1945 aufgestellt hätte, wäre man wohl auf 10 bis 20 Jahre weniger gekommen, obwohl mein Grossvater 95 wurde :-).
nun ist der großvater aber nun wahrlich nicht repräsentativ
„Weil die Lebenserwartung für alle steigt, nimmt die Zahl der Rentner in jedem Alter zu. Die der jüngeren Alten, die knapp über 65 sind, wächst aber derzeit sehr viel stärker als die der älteren. Denn seit einigen Jahren kommen die starken Jahrgänge der Babyboomer ins Rentenalter. Das führt mit mathematischer Zwangsläufigkeit dazu, dass das aus den DRV-Daten berechnete Sterbealter der Rentner sinkt, selbst wenn ihre Lebenserwartung in Wahrheit steigt.“
Ich kenne mich mit mathematischer Zwangsläufigkeit nicht aus, wage aber darauf hinzuweisen, dass das aus den DRV-Daten berechnete Sterbealter weder mathematisch zwangsläufig noch sonstwie sinkt. Im Gegenteil: Es steigt. Im Durchschnitt – und besonders bei den gehobenen Einkommensschichten. Lediglich bei den Geringverdienern nicht. Das erscheint mir signifikant.
Lieber Bernd N.,
ich fürchte, wenn man an der Wahrheit über die Lebenserwartung interessiert ist, muss man sich wohl oder übel mit der Mathematik dahinter beschäftigen. Deswegen kann man vom Medienpublikum jetzt keinen Kurs in Statistik erwarten. Aber man muss solche Fähigkeiten erwarten von den Medien selbst. Dort sollte es journalistische Experten geben, die sich mit so etwas auskennen und nachvollziehen können, dass die Interpretation der Zahlen durch die LINKEn Quatsch ist.
Man darf sich nicht einfach auf den Standpunkt stellen und sagen: Die Mathematik, die dahinter steckt, ist mir zu kompliziert, also glaube ich das einfach mal. Dann würde ja fast jede Zahl fast alles beweisen. Das Verführerische in diesem speziellen Fall ist, dass die Rechnung, die die LINKEn gemacht haben, total einfach ist. Aber die Berechnung der Lebenserwartung, die sie vorgeben zu beziffern, ist eben mathematisch nicht so einfach (dafür aber statistisch robust, z.B. gegen Altersstrukturverschiebungen). Wenn man also die Frage stellt: Stimmt das, was die Linken sagen? Dann muss man beides verstehen: Das was die LINKEn rechnen, und wie man das berechnet, was die LINKEn vorgeben zu berechnen.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Sehr geehrter Björn Schentker,
ich stelle die Mathematik und speziell die Statistik nicht in Frage – aber beim Betrachten der Tabelle fällt mir auf, daß die Bezugsdauer in den höheren Entgeltpositionen konstant geblieben bzw. deutlich gestiegen ist. Freilich kann man daran keine durchschnittliche Lebenserwartung ausrechnen, aber es ist doch ein Indiz dafür, daß der Grundansatz, daß Geringverdiener eine geringere Lebenserwartung haben könnten. Ich würde das also nicht komplett in Frage stellen, nur weil die Art der Berechnung falsch ist (Sie kennen das sicherlich aus der Schule, daß man keine Punkte oder die volle Punktzahl bekommt, wenn der Rechenweg falsch, das Ergebnis aber richtig ist – ganz vom Lehrer abhängig).
Mit freundlichen Grüßen
entejens
Lieber entejens,
ja, Sie haben richtig beobachtet, dass die durchschnittliche Bezugsdauer für höhere durchschnittliche Entgeltpunkte konstant bleibt oder ansteigt. So verführerisch diese Zahlen sein mögen, das ist dennoch kein Indiz dafür, dass die Lebenserwartung geringer Verdienender sinkt.
Dass sie es bis 2006 nicht tut, zeigt ja die korrekte Rechnung von Scholz und Schulz (Bei den LINKEn ist also nicht nur der Rechenweg, sondern auch das Ergebnis falsch). Alles andere sind Artefakte. Wenn sie die Tabelle genau anschauen, sehen Sie: Je größer der Faktor ist, um den sich die Fallzahlen von 2001 auf 2010 vergrößern, desto weniger steigt die durchschnittliche Bezugsdauer. Für die Bezugsgruppen mit Entgeltpunkten < 1 ist der Faktor sehr groß, und die durchschnittliche Bezugsdauer sinkt. Das könnte ein Indiz dafür ein, dass die Altersstruktur sich dort besonders stark ändert (und das Ansteigen der Lebenserwartung wird ja um so stärker statistisch unterdrückt (und schließlich umgekehrt), je größer die Veränderungen in der Altersstruktur sind). Ich schreibe dies aber bewusst spekulativ, weil die Daten in der Tabelle nur etwas über die Anzahl der Fälle, nicht aber über die Altersstruktur dieser Gruppen aussagt. Wie sehr sich die Altersstruktur ändert, ist also nicht erkennbar. Es nutzt nichts: Man braucht wesentlich mehr Daten, als in der Tabelle zu sehen sind, um die korrekte Lebenserwartung zu berechnen. Aus der Tabelle kann man sie nicht ablesen. Man kann nur etwas hinein interpretieren, was man gerne darin sehen würde. Beste Grüße, Björn Schwentker
In der Scholz-Schulz-DRV-Grafik beunruhigt mich die Abnahme oder Stagnation der Lebenserwartung im Jahr 2006, die im Wesentlichen ja wohl die unteren Einkommensschichten traf. War der Sommer damals wieder so heiß? Zudem geht die Schere zwischen arm und reich auseinander: Im Vergleich zu 1994 hat sich der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den „Armen“ und den „Reichen“ von rund drei auf rund vier Jahre im Jahr 2006 vergrößert. Interessant wäre auf alle Fälle eine Fortführung dieser Statistik. Ich befürchte aber, das war/ist nicht unbedingt gewollt…
Lieber Gerhard Samulat,
ja, ich wäre an einer Fortführung dieser Statistik auch sehr interessiert. Bisher ist mir keine bekannt, wahrscheinlich gibt es tatsächlich keine. Ich würde deswegen aber nicht unterstellen, dass sie nicht gewollt ist. Es braucht ausgebildete Fachwissenschaftler mit vollem Zugang zu den nötigen, sehr großen Datenmengen, um solche Berechnungen (richtig) zu machen. Davon gibt es in Deutschland im Bereich der Demografie leider sehr wenige (der Zustand der demografischen Forschung in Deutschland wäre ein interessantes Thema für einen eigenen Blog-Post). Anders ausgedrückt: Die wissenschaftlichen Ressourcen für die Produktion demografischer Wahrheiten sind in Deutschland leider (viel zu) klein – nicht nur in diesem Fall. Aber wer weiß, vielleicht sitzt ja trotzdem gerade ein Forscher an aktuelleren Daten. Sollte mir eine neue Veröffentlichung bekannt werden, schreibe ich darüber sofort im Demografie-Blog.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Vielleicht kann mir hier einer weiterhelfen. Mich interessieren Lebens“erwartungen“ genausowenig wie Konjunktur“erwartungen“. Nach den Konjunktur“erwartungen“ unserer „Experten“ haben wir seit 20 Jahren Dauer-Aufschwung.
Mich interessiert, wie alt die Leute tatsächlich werden, nicht was Statistiker fiktiv für die Zukunft errechnen, was sein könnte, wenn da nicht die Realität überraschenderweise zwischenfunkte.
Also ganz einfache Zahlen.
Wieviele von den 1920 Geborenen erlebten das 20-, 40-, 60-, 80-jährige,
wieviele von den 1930 usw. (Klar, gibt es keine Zahlen über das 40 Jahre alte werden von Leuten, die 2000 geboren wurden).
Daraus ließen sich interessante Trends herauslesen. Ich erwarte dabei, daß nicht nur die Weltkriege, sondern auch die Industrialisierung der Nahrung usw., die verschlechterten Lebensbedingungen seit der Wende (HartzIV) einen Effekt auf das tatsächliche erreichte Lebensalter haben dürfte (reales Lebensalter eher nach unten). Die immer wieder von Statistikern ausgerufenen Lebens“erwartungs“zahlen haben sicherlich mit meiner Realität nichts zu tun. Offensichtlich werden dort die Leute schlicht rausgerechnet, die früher sterben.
Wo gibt es obiges Zahlenmaterial?
Liebe(r) guadalupe,
ich denke, die Konjunkturerwartungen sind kein guter Vergleich für die Lebenserwartung. Ich bin kein Experte in Konjunkturerwartungen, aber ich glaube nicht, dass sie auf einem so klar definierten, einheitlichen statistisch-mathematischen Konzept beruhen wie die Lebenserwartung.
Es ist gerade nicht so, wie sie vermuten, dass nämlich aus der Lebenserwartung die Leute herausgerechnet werden, die früher sterben. Im Gegenteil. So geht z.B. in die Lebenserwartung ab Geburt für jedes einzelne Lebensalter ab dem Jahr Null präzise das Überlebens- bzw. Sterberisiko ein (also die Zahl der Überlebenden und Gestorbenen). Siehe z.B. http://www.lebenserwartung.info/index-Dateien/sterbetafel.htm.
Gleichwohl kann man die Sterblichkeit nach Geburtsjahrgängen untersuchen – im Prinzip so, wie Sie vorschlagen. Die gewöhnliche Lebenserwartung berücksichtigt zwar das Überlebens- bzw. Sterberisiko in jedem Lebensalter, aber nur im aktuellen Jahr. Fachleute sprechen dabei vom Unterschied zwischen sogenannten Periodenmaßen („normale“ Lebenserwartung) und Kohortenmaßen (Lebenserwartung nach Geburtsjahrgängen). Wenn die Sterblichkeit, also die Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Alter zu sterben, immer weiter sinkt (und das ist im Moment der Fall), dann steigt die Lebenserwartung nach Kohorten noch stärker, als es die „normale“ Lebenserwartung ohnehin schon tut.
Bevor es jetzt endgültig verwirrend wird, vertage ich das Thema lieber auf einen ausführlicheren Blog-Post. Entscheidend ist: Es gibt verschiedene Maße für die Sterblichkeit. Aber sie zeigen bisher alle dasselbe an: Die Lebenserwartung steigt und steigt – nach bisherigem Kenntnisstand durch alle Einkommensschichten, auch wenn es vielen schwerfällt, das zu glauben. Natürlich kann sich das ändern. Aber der Beweis dafür stünde dann noch aus. Indem Sie einfach das Maß für die Lebenserwartung ändern, wie von Ihnen beschrieben, beginnt die Lebenserwartung auf jeden Fall nicht zu sinken.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Entsprechendes Zahlenmaterial können sie zum Beispiel in den Generationensterbetafel des Statistischen Bundesamtes finden.
Zum Anstieg der Kohortenlebenserwartung im internationalen Kontext würde ich auf den Artikel von Shkolnikov et al. Steep increase in best-practice cohort life expectancy“ in Population and Development Review, 37:3, 419-434 (2011) verweisen.
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Des weiteren stimme ich Herrn Schwentker voll zu, dass das Verständnis der Mathematik hinter der Lebenserwartung und die Kenntnis über die Unterschiede zwischen Perioden- und Kohortenmaßen für die Interpretation essentiell ist und in der öffentlichen Diskussion als zu gerne vernachlässigt wird.
Vielen Dank auch. Damit mache ich mich bei der nächsten Diskussion um die Rente und eben-solchen-Unsinn wieder massig unbeliebt. Oder ich bleibe einfach still und denke mir was dabei 😀
Sehr geehrter Herr Schwentker,
Sie haben natürlich recht, dass man eine sinkende Rentenbezugsdauer nicht einfach mit einer sinkenden Lebenserwartung gleichsetzen darf. Schön, dass Sie das klargestellt haben. Ihre Erklärung, warum aber die Rentenbezugsdauer von Geringverdienern sinkt, ist geradezu abenteuerlich.
Sie erklären dies mit einem Alterstruktureffekt. D.h., wenn die Zahl der jungen Rentner im Verhältnis zu den älteren immer mehr zunimmt, dann sinkt das durchschnittliche Sterbealter und damit die Rentenbezugsdauer. Abgesehen davon, dass dieser Effekt auch bei den besser verdienenden Rentnern sichtbar sein müsste – was er nicht ist -, wäre dies eine vernünftige Erklärung, wenn sie denn den Tatsachen entsprechen würde.
Dazu schreiben Sie: „Weil die Lebenserwartung für alle steigt, nimmt die Zahl der Rentner in jedem Alter zu. Die der jüngeren Alten, die knapp über 65 sind, wächst aber derzeit sehr viel stärker als die der älteren. Denn seit einigen Jahren kommen die starken Jahrgänge der Babyboomer ins Rentenalter.“
Wie bitte? Babyboomer? Jemand, der 2010 das 65ste Lebensjahr vollendet hat, wurde 1945 geboren. Das war ein geburtenschwacher Kriegsjahrgang wie auch schon die Jahrgänge davor. Damit haben in den letzten Jahren – entgegen Ihrer Behauptung – relativ schwach besetzte Jahrgänge das gesetzliche Rentenalter erreicht. Ein kleiner Blick in die amtliche Statistik (z.B. Fachserie 1 Reihe 1.3) hätte genügt, um eine derartige Falschmeldung zu vermeiden.
Haarscharf an der Realität vorbei geht auch die folgende Annahme: „von den Alten sterben immer weniger als von den Jungen, weile es davon so viel weniger gibt“. Auch hier ist im Vorteil, wer lesen kann: 2010 gab es bei den Männern die meisten Todesfälle unter den 81-Jährigen, bei den Frauen unter den 88-Jährigen. (https://www-genesis.destatis.de/genesis online;jsessionid=13BEE7657E9CDC7E1CCCA7815A7BECCB.tomcat_GO_1_2?operation=previous&levelindex=2&levelid=1324413625718&step=2)
Kurzum: Ihre Hypothese vom Alterstruktureffekt scheitert an den Fakten. Sie verstößt gegen das Kriterium der äusseren Konsistenz. Damit haben Sie keine Erklärung für die sinkende Rentenbezugsdauer von Geringverdienern. Und es ist Ihnen nicht gelungen, die These von der sinkenden Lebenserwartung der Einkommensschwachen zu widerlegen.
LG veblen
Sehr geehrte(r) veblen,
haben Sie vielen Dank für Ihre Hinweise und Ihre Recherche. Mit den Babyboomern haben Sie sicherlich recht. Da habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe im Haupttext entsprechende Anmerkungen gemacht.
Ich gehe der Sache mit dem Altersstruktureffekt noch einmal gründlich nach. So einfach ist es aber nicht, fürchte ich, da man nicht die Daten für komplette Geburtenjahrgänge mit den speziellen, teils sehr kleinen Entgeltgruppen der Rentner in den DRV-Daten aus der Anfrage vergleichen kann. Das Problem ist, dass die Daten, die man für genauere Aussagen bräuchte, in den Tabellen nicht vorhanden sind. Auch nicht in der GENESIS-Datenbank.
Es kann allerdings durchaus sein, dass sich Altersstruktureffekte in er einen Entgeltgruppe zeigen, in der anderen aber nicht, weil sich die Gruppen anders verändert haben. Dafür spräche die stark unterschiedliche Veränderung der Fallzahlen in den verschiedenen Entgeltgruppen (siehe auch meine Antwort an entejens vom 18. Dezember 2011 um 20:06 Uhr).
Wie auch immer die verzerrenden Effekte im Detail wirken: Das ändert nichts daran, dass die Behauptung der Linken, die Lebenserwartung sinke, mit ihren Sterbedaten nicht zu belegen ist. Und wie die richtige Berechnung von Scholz und Schulz zeigt, steigt die Lebenserwartung aller Altersgruppen bis mindestens 2006.
Beste Grüße, Björn Schwentker
Richtig ist, dass die Menschen, die derzeit sterben, zwar Statistiken derzeitiger Sterbetafeln füttern. Ob das gestiegene Durchschnittsalter der derzeit Sterbenden aber mit einer Steigerung des Lebensalters der derzeit Lebenden identisch ist?
Die Menschen, die derzeit im Alter von ca. 80 oder 90 Jahren sterben, haben in ihrer Arbeitswelt, im Renten-, Sozial- und Gesundheitssystem bis ca. 1990 stete Verbesserungen erfahren, z.B. aufgrund starker Gewerkschaften. Aus genau diesem Grund stieg das Alter der Menschen. Dieser Trend ist aber seit den 90ern deutlich rückläufig, macht sich dann aber natürlich erst um Jahrzehnte verzögert im Gesundheitszustand der Alten bemerkbar.
Es wäre auch vollkommen unlogisch, wenn die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die Einführung von Billiglohn, Leiharbeit, prekär Beschäftigten, auch die Entwicklung in Richtung Zweiklassenmedizin keinen Einfluss auf die Gesundheit hätte; vor allem bei Geringverdienern, deren körperliche Arbeit am intensivsten, deren Möglichkeiten der Vorsorge dagegen am begrenztesten ist.
Es gibt ganz sicher kein Naturgesetz stetig wachsender Lebenserwartung, wie dies die offizielle Politik inkl. der meisten Medien gern weis zu machen versuchen, um uns damit die Steigerung des Renteneintrittsalters plausibel zu machen, wo die Nachweise erst Jahrzehnte später sichtbar werden. Bis dahin kann also nur gelten: Traue nur der Statistik, die Du selbst gefälscht hast.
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