29. Dezember 2011, 15:45  5 Kommentare

Lebenserwartung von Geringverdienern: Neue Daten zum Rechenfehler der Linken

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Kürzlich hatte ich im Demografie-Blog beschrieben, wieso sich die Bundestagsfraktion der LINKEn verrechnet hatte, als sie behauptete, die Lebenserwartung von Geringverdienern sinke. Jetzt hat mir die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Daten zur Verfügung gestellt, mit denen sich tatsächlich belegen lässt, dass das Sterbealter der LINKEn verzerrt ist. Bisher ließ sich nur vermuten, dass sich die Altersstruktur der von den LINKEn beschriebenen „Geringverdiener“ so verschoben hat, dass das Sterbealter im Lauf der Zeit künstlich gedrückt wurde. Nun ist diese Strukturverschiebung sicher.

Ich gehe darauf auch deswegen hier noch einmal ein (und stelle die Daten zur Verfügung), weil die Debatte um die Rente weiterhin in vollem Gange ist, und wegen der Rente mit 67 sicher noch eine Weile sein wird. Häufig werden die politischen Argumente dieser Debatte mit Daten der DRV unterfüttert. Man kann gar nicht vorsichtig genug bei der Interpretation dieser Zahlen sein. Die Datensätze der DRV sind zwar per se richtig, aber so groß und kompliziert, dass man vielerlei Fehler machen kann, wenn man sie auf eine einfache Aussage reduzieren will. Das Sterbealter der LINKEn ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein solcher Fehler passiert.

Zur Erinnerung: Am 12.12.2011 veröffentlichte die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ auf ihren Webseiten eine Pressemeldung, in der sie behauptete, die Lebenserwartung von Geringverdienern sei von 77,5 im Jahre 2001 auf nur noch 75,5 im Jahr 2010 gefallen. Sie stützte sich dabei auf richtige Daten der DRV. Deren Interpretation durch die LINKEn ist jedoch falsch. Tatsächlich steigt die Lebenserwartung für alle Einkommensklassen bis mindestens 2006, wie wissenschaftliche Analysen zeigen. Die LINKEn hatten keine Lebenserwartung berechnet, sondern nur das durchschnittliche Sterbealter von Männern, die in den Jahren 2001 bzw. 2010 aus der Rente ausschieden, weil sie verstarben („Rentenwegfälle“).

Diese Maßzahl ist aussagelos und verzerrt, weil sie zum einen nur auf Basis der Verstorbenen berechnet wurde, zur Kalkulation einer korrekten Lebenserwartung aber auch die Überlebenden berücksichtigt werden müssen. Doch auch als reines Sterbealter ist die Zahl verzerrt, weil sich die Gruppe, die die LINKEn als „Geringverdiener“ bezeichnet, so stark in ihrer Altersstruktur verändert hat, dass dies automatisch das Sterbealter nach unten zieht. Daten, die die DRV mir jetzt zur Verfügung gestellt hat, zeigen, wie heftig dieser Effekt ist, dem die LINKEn (und in ihrem Gefolge die Medien) auf den Leim gegangen sind:

Altersstruktur der männlichen Rentner ab 65 Jahren mit Entgeltpunkten von 0,5 bis 0,75 zum Jahresende 2000 und 2009 (Maus über die Säulen bewegen, um Werte anzuzeigen). Die jüngeren Jahrgänge legen wesentlich stärker zu als die älteren, der Altersdurchschnitt sinkt von 72,2 auf 71,4 Jahre. Diese Verschiebung der Altersstruktur drückt das durchschnittliche Sterbealter, das die LINKEn berechnet haben, für die Jahre nach 2001 künstlich nach unten.
Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Daten auf Google Docs

Die Gruppe von Rentnern, die die LINKEn als „Geringverdiener“ bezeichneten1, hat sich nämlich von 2001 zu 2010 entgegen dem allgemeinen Trend eines steigenden Lebensalters verjüngt: Lag das Durchschnittsalter am Jahresende 2000 noch bei 72,2 Jahren, war es bis 2009 auf 71,4 gefallen2. Das lag daran, dass sich die gesamte Gruppe extrem vergrößert hat, und dabei hauptsächlich in den jüngeren Altersjahrgängen Rentner hinzu kamen. So stieg die Gruppe der Rentner bis einschließlich 77 Jahre auf das 2,5-Fache an, die Pensionäre im Alter 78+ aber nur auf das 1,5-Fache. In einer derart „verjüngten“ Altersstruktur sinkt das durchschnittliche Sterbealter aber fast automatisch, da schlichtweg vielmehr Junge als Alte hinzugekommen sind, die dem Risiko unterliegen, zu sterben (siehe auch das Rechenbeispiel im ersten Post zum Thema).

Die Panne der LINKEn ist deshalb so interessant, weil sie zeigt, wie sehr die Realität hinter den Daten von dem abweichen kann, was man erwartet. Denn bei einer generell steigenden Lebenserwartung würde man mit einer Verjüngung von Rentnergruppen sicher nicht ohne Weiteres rechnen. Hätte jemand die Zahlen zur Altersstruktur der Männer in Deutschland für die letzten zehn Jahren nachgeschlagen, hätte er im Gegenteil gefunden, dass das Durchschnittsalter der über 65-Jährigen von 72,9 (Ende 2000) auf 73,5 Jahre (Ende 2009) gestiegen ist, und die Jahrgänge der bis 77-Jährigen prozentual weniger gewachsen sind (um 30 Prozent, oder auf das 1,30-Fache) als die über 77-Jährigen (plus 56 Prozent, oder auf das 1,56-Fache).

Altersstruktur der männlichen Bevölkerung in Deutschland ab Alter 65. (Maus über die Säulen bewegen, um Werte anzuzeigen.) Höhere Altersgruppen legen prozentual stärker zu als jüngere, das Durchschnittsalter steigt von 72,9 auf 73,5 Jahre. (Der Anstieg im Alter 95 liegt daran, dass das Statistische Bundesamt in dieser Altersgruppe alle Männer im Alter 95 und mehr zusammenfasst.)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Daten auf Google Docs

Dass sich die Altersstruktur der Geringverdiener (0,5 bis 0,75 durchschnittliche Entgeltpunkte) so anders entwickelt hat, zeigt, wie speziell diese Gruppe ist. Die DRV weist darauf hin, dass die Rentnerzahlen aus den Jahrgängen der Vor-, Kriegs- und Nachkriegszeit extrem schwanken können. Zudem führen verschiedene Rechtsänderungen dazu, dass die Zahl der Rentner mit bestimmten durchschnittlichen Rentenentgeltpunkten auch unabhängig von der Stärke der Geburtsjahrgänge zu- oder abnehmen kann. Für einige haben sich beispielsweise die Zurechnungszeiten für Entgeltpunkte erhöht, während sie für andere gesunken sind. Auch Neuregelungen bei den Abschlägen beeinflussen in den letzten Jahren erheblich die Höhe der persönlichen Entgeltpunkte, zudem gibt es Sonderregelungen für Spätaussiedler.

Es hilft also nichts: Wer aus den Daten der DRV Maßzahlen für die politische Diskussion ableiten möchte, muss erst einmal gründlich nachforschen, was er da behauptet. So frustrierend das für Medien und Politik auch sein mag: In vielen Fällen ist die Lage zu kompliziert, um die Daten überhaupt selbst richtig bewerten zu können. Das liegt zum einen daran, dass ihnen das nötige Fachwissen dazu fehlt. Zum anderen stellt ihnen die DRV aber auch nicht die kompletten Daten zur Verfügung, die sie bräuchten, um korrekte Aussagen zu machen.

Das ist kein böser Wille der DRV. Sie befolgt damit die Maßgaben des deutschen Datenschutzes, der verlangt, dass die persönlichen Daten der Rentner nicht herausgegeben werden dürfen. Allerdings stellt das Forschungsdatenzentrum der DRV seit 2006 Wissenschaftlern auf Antrag solche (evtl. nach Bedarf geänderte) Daten zur Verfügung, als anonymisierte „Scientific Use Files“3. Auf der Spielwiese der Demografie- und Rentendebatte liegt der Ball also im Feld der Wissenschaft: Nur sie hat gleichzeitig Datenzugang und Know-How, um korrekt zu berechnen, wie sich die Lebenserwartung in Abhängigkeit vom Einkommen mit der Zeit entwickelt.

  1. Unter „Geringverdienern“ verstehen die LINKEn männliche, durch die DRV (auch im Ausland) versicherte Rentner mit mindestens 35 Versicherungsjahren, die 0,5 bis 0,75 durchschnittliche persönliche Entgeltpunkten je Versicherungsjahr angesammelt haben (1,0 markiert das Durchschnittseinkommen der Versicherten eines Jahres). []
  2. Die LINKEN verglichen die Sterbealter von 2001 und 2010. Den Rentenwegfällen dieser Jahre (aus denen das Sterbealter berechnet wurde) liegen aber die Jahresendbestände vom Jahr zuvor zugrunde. Deshalb zählen für die Altersstruktur die Jahre 2000 und 2009. []
  3. Es gibt auch weniger umfangreiche Datenpakete für die Öffentlichkeit, sogenannte Public Use Files []

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Robert Januar 4, 2012 um 15:10

Hallo,

wenn ich den Text richtig verstehe, wäre die zugegeben verkürzende „Schlagzeile“ korrekt: „Männer werden immer früher arm!“, oder?. Wenn immer mehr vergleichsweise junge Männer zu den Geringverdienern hinzustoßen, sollte die Schlussfolgerung doch stimmen?

Viele Grüße
Robert

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Soziobloge Mai 21, 2012 um 14:04

Hallo,

mal eine Frage. Wie erstellst du denn diese interaktiven Grafiken? Ist das mit Google Docs gemacht?

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Björn Schwentker Mai 21, 2012 um 17:06

Lieber Soziobloge,

die interaktiven Grafiken sind mit dem freien Open Source Javascript- bzw. jQuery-Paket flot gemacht, d.h., jedes Mal wieder selbst programmiert.

Ich binde die Code-Schnipsel der Grafiken per iframe in Wordpress ein (man könnte dort aber auch direkt den JS-Code einbinden). Hier ist die Seite hinter dem iframe; Du kannst Dir ja mal den Code ansehen.

Ich habe bisher keine Daten auf Google Docs als Grundlage für Visualisierungen benutzt. Ich lege sie da nur ab, weil sie dort für jeden einfach zugänglich und verständlich sind. Prinzipiell sehe ich die Nutzung von Google Docs eher kritisch, vor allem, weil es ein proprietäres System ist. Darum liegen die Daten hinter meinen Plots auch alle als CSV-Dateien auf meinem eigenen Server, von wo aus ich sie mithilfe von PHP direkt in eine Javascript-Variable lade, die dann von flot genutzt wird.

Ich hoffe, das hilft. Sonst gerne fragen.

viele Grüße,
Björn

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Soziobloge Mai 24, 2012 um 08:36

Vielen Dank Björn,

das schau ich mir mal an. :-)

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