Migration ist in Deutschland ein heißes Thema, das gerne und schnell diskutiert wird. Kurz, nachdem das Statistische Bundesamt heute die neusten Wanderungszahlen in einer Pressemitteilung veröffentlicht hatte, schickte die dpa (Deutsche Presse-Agentur) um 8:56 Uhr eine Kurzmeldung zum Thema raus, die die ersten Online-Medien gleich aufgriffen. Dabei gab das Bundesamt nur die Zu- und Fortzüge der ersten Jahreshälfte 2011 bekannt – nicht einmal die des ganzen Jahres, die man langfristig mit anderen Jahren vergleichen könnte. Die Wiesbadener Statistiker kennen das frühzeitige Bedürfnis der Medien nach demografischen Daten bereits und lieferten darum den Vergleich zu den Wanderungszahlen vom ersten Halbjahr 2010 gleich mit – von den Medien dankbar aufgenommen.
Alles kein Problem. Das Statistische Bundesamt arbeitet sauber und vom Journalismus erwarten wir ja, dass er schnell ist. Doch prompt stellt die dpa die Anzahl Fortzüge, und damit den Saldo der Wanderungen nicht korrekt dar, sobald sie ein wenig weiter in die Vergangenheit blickt. Bedauerlich, denn viele der Medien, ob online oder klassisch, übernehmen einfach, was die dpa ihnen liefert – oft wörtlich. Dabei wäre mehr und bessere Information schnell zu kriegen gewesen. Die Daten, die ich in diesem Post veröffentliche, hätte man durch ein bisschen Recherche auf den Seiten des Statistischen Bundesamtes und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowie durch einen kurzen Anruf beim in der heutigen Pressemeldung ausgewiesenen Wiesbadener Experten bekommen können. Journalisten, die das getan hätten, hätten selbst entscheiden können, ob sie dieselbe Geschichte erzählen wie alle anderen (nämlich die der dpa), oder eine eigene, vielleicht viel bessere.
Natürlich wurde die Geschichte der dpa auch deswegen so bereitwillig weiterverbreitet, weil sie nicht schlecht ist. Da man auch bei der dpa wenig recherchiert, ist es ziemlich genau dieselbe Story, die das Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung erzählt: In der ersten Jahreshälfte 2011 sind 19 Prozent mehr Menschen nach Deutschland eingewandert als im Vorjahreszeitraum – das scheint eine ganze Menge. Insbesondere kommen mehr Menschen aus EU-Krisenstaaten wie Griechenland (+84 Prozent) oder Spanien (+49 Prozent). Insgesamt wanderten im ersten Halbjahr etwa 435.000 Menschen ein. Bliebe der Zustrom gleich stark, wären es bis Ende des Jahres insgesamt 870.000. Ist das tatsächlich außergewöhnlich?
Besorgt man sich in Wiesbaden die „Lange Reihe“ der Migrationsdaten ab 1950 (als Excel-Datei per Anruf oder im Internet; Bis 1990 nur früheres Bundesgebiet, danach Gesamtdeutschland; 1950 bis 1957 ohne Saarland), kann man schnell daran ablesen, dass die Zahl der Zuzügler in der Zeit seit Ende des Zweiten Weltkrieges schon wesentlich höher war. Was noch deutlicher ins Auge springt: Bisher waren die Zuwanderungszahlen alles andere als stabil. Sie fluktuieren so stark, dass man sich fragt, ob man einen langfristigen Trend überhaupt darin sehen darf.

Betrachtet man nur die letzten Jahrzehnte, gibt es tatsächlich einen: Seit 1985 ist der Saldo der Wanderungen mit großer Wahrscheinlichkeit immer positiv gewesen, es sind also jedes Jahr mehr Leute nach Deutschland gekommen, als es verlassen haben. Das sieht man allerdings nicht, wenn man die Daten des Statistischen Bundesamtes einfach für bare Münze nimmt, wie etwa die dpa, die in ihrer heutigen Meldung von 11:12 Uhr schreibt:
Seit 2007 kommen jedes Jahr mehr Menschen nach Deutschland als von hier wegziehen – nur in den Jahren 2008 und 2009 war es umgekehrt.
Die Agentur-Journalisten haben offenbar nicht gewusst, dass die Fortzüge in den Jahren 2008 und 2009 zu einem beträchtlichen Teil überschätzt sind, was sehr wahrscheinlich fälschlich zu einer negativen Nettoeinwanderung in diesen Jahren geführt hat. So schwer wäre das nicht herauszufinden gewesen. Im Gegenteil, man muss es schon fast ignorieren. Denn die Statistiker aus Wiesbaden weisen in ihrer heutigen Pressemeldung explizit darauf hin:
Bezüglich der Entwicklung der Fortzüge sind jedoch mögliche Sondereffekte zu berücksichtigen: Wegen der bundesweiten Einführung der Steuer-Identifikationsnummer für jeden Bürger wurden seit 2008 umfangreiche Bereinigungen der Melderegister vorgenommen, die zu zahlreichen Abmeldungen von Amts wegen in den Melderegistern führten. Diese Abmeldungen wurden den Statistischen Ämtern gemeldet und flossen zum großen Teil in die Berechnung der Fortzüge mit ein. Inwieweit die Ergebnisse 2010 dadurch beeinträchtigt sind, kann nicht ermittelt werden. Es ist deshalb unklar, ob der Rückgang der verzeichneten Fortzüge von 2010 auf 2011 eine tatsächliche Entwicklung oder einen Rückgang der Bereinigungseffekte abbildet.
Spätestens, nachdem er das gelesen hat, hätte jeder Journalist zum Telefonhörer greifen und in Wiesbaden anrufen müssen. Denn der Textabschnitt musste ihn vermuten lassen, dass sämtliche Fortzüge von 2008 bis 2011 nicht richtig erfasst und damit auch die Salden dieser Jahre nicht korrekt sind. Zum Glück ist der Schaden durch unterlassene Recherche nicht allzu groß. Am Telefon hätte der Journalist erfahren, dass es ganz so schlimm, wie es in der Pressemeldung klingt, gar nicht ist. Die Werte für 2010 und das erste Halbjahr 2011 sind wahrscheinlich nur noch schwach durch die Bereinigung der Melderegister beeinflusst, und stimmen in etwa. Das gilt jedoch nicht für 2008 und 2009.

Der Experte vom Statistischen Bundesamt hätte auf Anfrage auch geduldig das nötige Hintergrundwissen geliefert, um einschätzen zu können, warum man welchen Fortzugs- und Saldozahlen trauen sollte oder besser nicht: Als 2008 die neuen Steuer-Identifikationsnummern verschickt wurden, stellten die Ämter fest, dass viele der Angeschriebenen gar nicht mehr in Deutschland wohnten, hier aber noch gemeldet waren. Die Meldeämter strichen solche Personen daraufhin aus ihren Registern und verbuchten sie als Fortzüge, selbst wenn sie (unentdeckt) schon viel früher das Land verlassen hatten.
Diese Buchungen geschahen aber nicht alle auf einmal. Erst versuchten die Beamten sicherzustellen, dass die Streichkandidaten auch wirklich weg sind und recherchierten ihnen hinterher (zum Beispiel, in dem sie nachverfolgten, ob eine Person nur im Inland umgezogen ist). Das Gros der Meldungen aufgrund von Registerbereinigungen fand darum in den Jahren 2008 und 2009 statt. Die Fortzüge dieser Jahre sind darum deutlich überschätzt. Danach waren die meisten Recherchen und Amtsprozesse abgeschlossen und nur noch wenige sind offen. Ab 2010 gelten die Abwanderungszahlen den Statistikern als einigermaßen stimmig. Allerdings: Wie viele Bereinigungsbuchungen noch darunter sind, weiß man in Wiesbaden nicht.
Natürlich bräuchte man sich wenig darum zu scheren, ob 2008 und 2009 zu Unrecht einen negativen Wanderungssaldo aufweisen. Ein anderes Vorzeichen in alleine diesen beiden Jahren dürfte kaum die deutsche Migrationspolitik beeinflussen. Allerdings vermittelt das Minus einen falschen Eindruck der letzten zehn Jahre, in denen in der Wanderung eventuell eine Trendwende stattgefunden ist, die schon früher eingetreten sein könnte, als es der negative Saldo vermuten ließ: Eine Trendwende hin zu steigenden Salden, die die Bevölkerung dauerhaft vergrößern.

Mit dem Abebben der Spätaussiedlerwelle im letzten Jahrzehnt war nämlich nicht nur die Brutto- sondern auch die Nettozuwanderung rückläufig. Es wäre durchaus zu erwarten gewesen, dass sie ohne die Aussiedler dauerhaft ins Minus rutscht. Es geschah aber das Gegenteil. Wie die seit 2007 wieder steigenden Zahlen der Zuwanderer (insgesamt, nicht nur Spätaussiedler) zeigen, gibt es immer noch genug Zuzügler, um die Einwanderungsbilanz dauerhaft im Plus zu halten. Und wäre sie 2008 und 2009 nicht durch die Registerbereinigungen ins Negative gerutscht, hätte sich damals schon eine steigende Tendenz des Saldos abgezeichnet.
Wie sich die Bilanz langfristig verhält, ist durchaus für die Bevölkerungsgröße relevant. Denn sie geht in die Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes ein. In der mittleren Variante „1-W1“ seiner letzte Bevölkerungsprojektion von 2009 nehmen die Wiesbadener Statistiker eine durchschnittliche Nettoeinwanderung von dauerhaft 100.000 Menschen pro Jahr an und kommen damit auf knapp 65 Millionen Einwohner im Jahr 2060. Berechnet man aber aus der langen Reihe der Wanderungssalden seit 1950 den Mittelwert (und lässt dabei 2008 und 2009 außer Acht), so kommt man auf einen Durchschnitt von über 170.000 Nettoeinwanderern pro Jahr. Am nächsten an diesen Wert kommt die eher unbekannte Variante „1-W2“ der 2009er Bevölkerungsprojektion, für die ein Wanderungssaldo von 200.000 ab dem Jahr 2020 angenommen wurde. Damit würden in Deutschland im Jahr 2060 gut 70 Millionen Menschen leben, etwa fünf Millionen mehr als nach der für gewöhnlich zitierten mittleren Variante 1-W1.
Welche neuen Trends die Wanderung der Zukunft tatsächlich bringen wird, ist schwer absehbar. Es ist aber lohnend, sich genauer anzuschauen, ob migrationspolitische Rahmenbedingungen sich in Tendenzen niederschlagen. Eine solche Rahmenbedingung hat sich gerade geändert: Im Mai 2011 sind die letzten Beschränkungen für den freien Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Staatsbürger weggefallen. Ob das einen unmittelbaren Effekt hatte?

Ein Anruf bei den Bundesstatistikern kann dafür zwar keinen Beweis liefern. Aber innerhalb von fünf Minuten schickt der Experte am anderen Ende der Leitung eine E-Mail mit den neusten Einwanderungszahlen, monatsgenau aufgeschlüsselt. Ab Mai, zeigt die Grafik der Daten, gibt es einen gut sichtbaren Sprung bei den nichtdeutschen Zuzüglern. Ein Trend ist das zwar noch nicht. Aber vielleicht ein Indiz, das die Nachrichten bereichert hätte.
(Bitte lesen Sie die Hinweise und Regeln zu Kommentaren.)
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