14. Juni 2006 DIE ZEIT

Pokerspiele an der Wiege

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Akademikerinnen sind im Gebärstreik? Nein. Die Statistik ist fehlerhaft. Und der Bundesrat verhindert exakte Erhebungen.

(Dieser Artikel erschien als zweiter Teil der vierteiligen ZEIT-Serie „Demografie“ und wurde mit dem Peter Hans Hofschneider Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus ausgezeichnet. Online-Version auf ZEIT ONLINE.)

Die Demografiedebatte ist eine Schlacht mit Zahlen. Geburtenrate, Anteil der Kinderlosen, Bevölkerungsprognosen: Jeder neue Wert, den die Statistiker liefern, wird begierig absorbiert und zitiert. Je dramatischer, desto besser. Doch viele der Daten taugen weder für eine sachliche Diskussion noch für eine solide Politikberatung. Daran ist nicht nur die laienhafte Interpretation der Zahlen schuld. Schon die Daten selbst sind mit Vorsicht zu genießen.

Kaum eine Ziffer hat wohl so sehr nationale Empörung ausgelöst wie die Geburtenrate in den vergangenen Jahren. Die Durchschnittszahl der Kinder pro Frau, im Fachbegriff die „zusammengefasste Geburtenziffer“, lag in Deutschland im Jahr 2004 bei 1,36 (West: 1,37, Ost: 1,31). Im Westen pendelt die Rate seit 1975 um etwa 1,4. Seit in den neuen Bundesländern die Geburtenrate nach der Wiedervereinigung auf 0,77 im Jahr 1992 fiel, ist von einer „Geburtenkrise“ im Osten die Rede. Für Michaela Kreyenfeld, Datenexpertin am Max-Planck-Institut (MPI) für demografische Forschung in Rostock, ist das Unsinn: „Im Osten gibt es kein Anzeichen für eine Krise. Bis heute hat dort jeder Frauenjahrgang sogar mehr Kinder bekommen als der entsprechende Jahrgang im Westen.“

Wie kann das sein? Die wahre Zahl der Kinder einer Frau kennt man erst, wenn sie ihre Geburtenphase beendet hat, für die Statistik ist das mit 45 Jahren der Fall. Diese endgültige Geburtenrate, die sich dann für jeden Frauengeburtsjahrgang berechnen lässt, ist eine weitaus verlässlichere Information als die „zusammengefasste Geburtenziffer“. Die aktuellsten Werte der endgültigen Rate gibt es für die Kinder des Mütterjahrgangs 1960. Sie liegen im Westen bei 1,6 und im Osten bei 1,8 Kindern pro Frau. Doch diese endgültigen Geburtenraten will keiner hören, denn für politisches oder gesellschaftliches Handeln kommen sie immer zu spät.

Um „neuere“ Zahlen zu haben, wurde in den fünfziger Jahren die erwähnte „zusammengefasste Geburtenziffer“ eingeführt, als aktueller Schätzwert der echten Geburtenrate. „Diese Zahl spielt zwar in der Politik eine große Rolle, ist aber irreführend“, sagt MPI-Demografin Kreyenfeld. Verschieben die Frauen ihre Geburten auf später, tendiert die Geburtenziffer dazu, zu niedrig auszufallen. Dieser so genannte Tempo-Effekt erklärt auch, warum im Osten mit der Mauer die Geburtenrate fiel: Bekamen die Frauen dort ihr erstes Kind vor der Wende noch mit schätzungsweise 22 Jahren, so wurden sie nur zwei Jahre später mit ebenso geschätzten 28 Jahren Mutter. Seit 30 Jahren steigt auch im Westen das Erstgebäralter der Frauen: von knapp über 24 Anfang der Siebziger bis auf heute 29 Jahre (geschätzte Werte). Wegen des Tempo-Effekts heißt das: Der tatsächliche Wert der Geburtenrate liegt wahrscheinlich höher als die geschätzten 1,4.

Zwar ließe sich der Tempo-Effekt aus der Geburtenrate herausrechnen, aber dafür fehlen hierzulande die Daten. So weiß man nicht, wann die Frauen ihr erstes, zweites oder weitere Kinder bekommen. Die Standesämter erfassen zwar für jede Frau die Reihenfolge ihrer Kinder, aber nur innerhalb ein und derselben Ehe. Eine absurde Zählweise: Heiratet eine einfache Mutter nach der Scheidung erneut und bekommt mit ihrem zweiten Mann ein Kind, so wird dieses wieder als erstes gezählt. Für außereheliche Kinder wird gar keine Reihenfolge erfasst. Was die Standesämter den Statistikern liefern, ist darum kaum zu gebrauchen.

Wie es scheint, halten sich seit 30 Jahren zwei gegenläufige Geburtentrends die Waage: Immer weniger Menschen bekommen in jüngeren Jahren Kinder, immer mehr indes entscheiden sich in späteren Jahren doch noch für Nachwuchs. Noch lässt diese Bewegung Schätzungen und endgültige Geburtenraten auseinanderklaffen. Erst wenn das durchschnittliche Gebäralter aus biologischen Gründen nicht mehr steigen kann, stimmen Wirklichkeit und Schätzungen besser überein und ein verlässlicher Trend wird sichtbar. Doch in welche Richtung geht er? Steigt die Geburtenrate, weil der mathematische Tempo-Effekt abflaut? Sinkt sie, weil die Frauen es schließlich nicht mehr schaffen, die aufgeschobenen Geburten nachzuholen? Oder gibt es zumindest bei den nichtehelich Gebärenden vielleicht bereits eine bisher unsichtbare Rückkehr zur früheren Erstgeburt? Es wäre nicht der erste Retrotrend, den unsere Gesellschaft erlebt.

Die Kinderlosigkeit in Deutschland lässt sich allenfalls grob schätzen

Deutschlands Familienpolitik befindet sich im Blindflug – ohne Instrumente. Dabei sollte sie eigentlich wissen, für wen sie ihre Politik macht. Welche Männer und Frauen zögern mit dem ersten Kind so lange? Wie alt sind sie, wenn sie sich dann doch dafür entscheiden? In welcher Lebensphase stecken sie dann? Welche Ängste und Sorgen haben sie zu dieser Zeit? Die Politiker können nicht mehr wissen als die Statistiker. Und die können ohne bessere Daten nur raten.

Allenfalls grob schätzen lässt sich in Deutschland auch die Kinderlosigkeit – und darin steckt vielleicht die größere Brisanz. Schreckensbotschaften wie die von 40 Prozent kinderlosen Akademikerinnen oder gar 50 Prozent bei Naturwissenschaftlerinnen sind mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. Als einzige amtliche Quelle bleibt der so genannte Mikrozensus. Als jährliche Pflichtbefragung von einem Prozent aller deutschen Haushalte – das sind etwa 800000 Personen – liefert er eigentlich eine traumhafte statistische Basis zur Erhebung von Fertilitätsdaten. Zu dumm nur, dass es im Mikrozensus keine Frage nach den leiblichen Kindern einer Frau gibt. Nach einer sonderbaren Erfassungsregel gilt eine Frau als kinderlos, wenn in ihrem Haushalt keine ledigen Kinder wohnen.

Dem Mikrozensus gelten all jene Frauen als kinderlos, die zum Befragungszeitpunkt noch keine Kinder haben, aber später welche bekommen. Hinzu kommen alle Frauen, deren Kinder zwar noch im Haus leben, aber bereits 18 Jahre alt sind. Ebenso sämtliche Frauen, deren Kinder bereits alle ausgezogen sind. Das ist aber noch nicht alles. Auch solche Frauen gelten als kinderlos, deren Kinder zwar noch nicht volljährig sind, aber momentan nicht im mütterlichen Haushalt wohnen. „Die Kinderlosigkeit wird im Mikrozensus wegen dieser Befragungsmethode überschätzt“, sagt die Datenexpertin Michaela Kreyenfeld.

Um wenigstens einen Anhaltswert für die Kinderlosigkeit zu bekommen, bedienen sich die Statistiker einer wissenschaftlich wenig eleganten Methode: des intelligenten Ratens. Sie betrachten eine Altersgruppe von Frauen, die einerseits schon so alt sind, dass sie bereits sämtliche Kinder bekommen haben. Gleichzeitig sollten sie aber alle noch jung genug sein, dass die Kinder zu Hause leben. Lange Zeit maß man die Kinderlosigkeit einfach im Alter zwischen 35 und 39. So kommt man auch auf die viel zitierten 40 Prozent unter den Akademikerinnen. Doch diese Zahl ist so ungenau wie ihre Messmethode.

Deutlich wurde dieser Umstand erst durch zwei junge Forscher des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) gemacht: Weil Hochschulabsolventinnen ihre Kinder erst sehr spät bekommen, fielen sie bei der Befragung als Mütter durch und wurden fälschlich als dauerhaft kinderlos gewertet. Die BiB-Forscher zählten neu, diesmal inklusive der Frauen über 39 Jahre. Plötzlich gab es nur noch 30 Prozent kinderlose Akademikerinnen. Detailliert rechneten die Wissenschaftler des BiB ihren Kollegen in einer Fachveröffentlichung vor, wie sehr die gemessene Kinderlosigkeit bei den Akademikerinnen vom Befragungsalter abhängt. Ihr Ergebnis: Unter den Akademikerinnen betrachtet man „am besten“ die 38- bis 43-Jährigen.

Nun ließe sich einwenden: Ob 30 oder 40 Prozent – beide Zahlen sind zu hoch. Die Max-Planck-Forscherin Michaela Kreyenfeld hingegen hält den Unterschied sehr wohl für entscheidend, vor allem wenn man den Abstand zur allgemeinen Kinderlosigkeit bedenke, die wahrscheinlich irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent liege. „Die Kinderlosigkeit wird sehr ideologisch diskutiert“, sagt Kreyenfeld. Ohne tiefer gehende Analyse würden vor allem die Akademikerinnen an den Pranger gestellt, nur weil sie angeblich weniger Kinder bekämen.

Selbst mit den zweifelhaften Daten nehmen es die Kombattanten der Demografiedebatte nicht immer genau. In einem Bericht der Bosch-Stiftung mit dem Titel Unternehmen Familie haben die Autoren ihre Kinderlosenzahlen für Akademikerinnen aus der wissenschaftlichen Vorlage des BiB abgeschrieben. Nur leider aus der falschen Tabelle. So tauchen genau jene 40 Prozent wieder auf, die BiB-Forscher als Beispiel für die falsche Erhebungsmethode kritisieren. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen jedoch hob den Bosch-Bericht sofort nach Erscheinen als Bestätigung ihrer Politik hervor. Selbst das Statistische Bundesamt präsentiert in seiner neuesten Pressemitteilung zu hohe Werte. In einer Pressemitteilung, die nach der BiB-Aufklärung veröffentlicht wurde, gelten 43 Prozent der Akademikerinnen im Westen als kinderlos, gemessen in der zu jung angesetzten Altersgruppe der 37- bis 40-Jährigen.

Der Soziologe Hans Bertram, der als familienpolitischer Berater bei Ursula von der Leyen derzeit ein und aus geht, beteiligt sich ebenfalls am Verwirrspiel um das Gebärverhalten deutscher Akademikerinnen. So zeigt Bertram im Bosch-Bericht Starke Familie Daten, die das gängige Bild komplett auf den Kopf stellen: Dort kann man nachlesen, dass die Kinderlosigkeit der westdeutschen Akademikerinnen schon 1971 bei 40 Prozent lag, seitdem aber gefallen ist. Was ist hier richtig? Woran soll sich eine Familienpolitik orientieren, die gerade dabei ist, viel Energie und Geld zu investieren, um auch – oder vielleicht gerade – den höher Gebildeten die Erfüllung ihrer Kinderwünsche möglich zu machen? Am Institut des Soziologieprofessors Bertram an der Berliner Humboldt-Universität war man sich selbst nach dreimaliger Nachfrage nicht sicher, mit welcher Methode die Kinderlosenzahlen in der Studie eigentlich berechnet worden waren.

Kein Problem mit den Daten haben nur jene Forscher, die sich anderen Feldstudien zuwenden. So entstand etwa am Max-Planck-Institut in Rostock ein Reichtum an Erkenntnissen über die Ursachen der Fertilität – in Skandinavien. Die dortigen Amtsregister liefern für jeden Einwohner nicht nur Datum und Reihenfolge sämtlicher Geburten, sondern dazu auch seine Berufsbiografie, den Verdienst, den Bildungsverlauf und ob er staatliche Leistungen in Anspruch nimmt. Erst mit solchen Daten lässt sich beantworten, ob es wirklich wahr ist, dass Frauen weniger Kinder bekommen, weil sie nach einer höheren Bildung streben. Schwedische Analysen legen nahe, dass andere Faktoren wichtiger sind: die faktische Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie in einem bestimmten Berufsfeld etwa oder die Wahl einer bestimmten Ausbildungsrichtung. In Deutschland wird man über solche Fragen weiter spekulieren müssen. Größere Umfragen sind für die Forschung zu teuer und Pflichterhebungen ohnehin Sache des Staates.

Der könnte die richtigen Zahlen zur Kinderlosigkeit ganz umsonst haben. Aber als die ehemalige Bundesregierung nach jahrelang erfolglosem Drängen der Wissenschaft endlich die eine, aber entscheidende Frage nach der Zahl der leiblichen Kinder in den Mikrozensus aufnehmen wollte, scheiterte sie am Bundesrat. Der ließ das Mikrozensusgesetz 2005, das den Fragenkatalog für die nächsten acht Jahre festschreibt, erst passieren, nachdem die Kinderfrage wieder gestrichen wurde.

Die Begründung der Länderkammer: Eine solche Frage sei peinlich und für viele Frauen unzumutbar, da sie eventuell Angaben zu Kindern machen müssten, über die sie nicht gern sprächen. Empiriker in der modernen Sozialforschung können darüber nur lachen: „Ich bin nicht die Einzige, die es völlig unverständlich findet, wieso man Leute nach ihrem Geld fragen kann, aber nicht nach ihren Kindern“, sagt Max-Planck-Forscherin Michaela Kreyenfeld. Sie fordert, das Mikrozensusgesetz zu ändern und die Frage nach der tatsächlichen Kinderzahl doch aufzunehmen. Auch Heike Wirth vom Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen in Mannheim will die umstrittene Kinderfrage möglichst bald im Mikrozensus sehen. Und zwar nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. „Sonst konzentriert sich auch weiterhin die gesamte Fertilitätsforschung nur auf die Frauen“, kritisiert Wirth.

Wieviele Singles und getrennt lebende Paare gibt es?

Tatsächlich ließe sich der Mikrozensus sofort ändern. Das neue Gesetz erlaubt es, Fragen auszutauschen, falls sich die Bedarfslage ändert. Neben einer entsprechenden Rechtsverordnung des Bundesinnenministers ist dazu allerdings wieder die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Der Gesetzgeber sollte auch die statistische Erfassung in den Standesämtern modernisieren. Würden nur ein paar Worte im Bevölkerungsstatistikgesetz geändert, dann dürfte sogar die Reihenfolge der nichtehelichen Geburten erfasst werden. Was fehlt, ist der politische Wille.

Dessen Schwäche wird augenfällig, wenn man genauer untersucht, welche weiteren Fragen der Bundesrat im neuen Mikrozensus verhindert hat. So wird von 2005 an nicht mehr der Bedarf an Kinderbetreuung erhoben. Auch die Frage nach Lebenspartnern außerhalb des Haushalts wurde gestrichen, ebenso die nach dem Eheschließungsjahr. So wird man in Deutschland weiterhin nicht wissen, wie viele Singles und wie viele getrennt lebende Paare es gibt. Auch die Dauer der bestehenden Ehen bleibt unbekannt.

Ist es bloß Zufall, dass alle gestrichenen Fragen in irgendeiner Weise mit der Auflösung des traditionellen ehelichen Familienbildes zu tun haben? Oder möchte man wirklich nicht wissen, wie modern diese Gesellschaft inzwischen geworden ist? Das wäre nicht nur fatal für die Sozialforschung, sondern auch für die Politik, die doch eigentlich die Gesellschaft kennen sollte, deren Wandel sie gestalten will.

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