8. Juni 2006 DIE ZEIT

Aussterben abgesagt

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Deutschland hat die Demografie entdeckt – und mit ihr die demografische Katastrophe. Viele Forscher sehen gar keinen Grund zur Aufregung.

(Dieser Artikel erschien als Auftakt der vierteiligen ZEIT-Serie „Demografie“ und wurde mit dem Peter Hans Hofschneider Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus ausgezeichnet. Online-Version auf ZEIT ONLINE.)

Wohl dem, der nicht kinderlos ist. Denn wer es ist, muss derzeit als Sündenbock für alles Erdenkliche herhalten. Für den Kollaps des Rentensystems, den ökonomischen Niedergang, die Erosion der Werte, den Verlust von Liebe, Solidarität und Familie und überhaupt für das Aussterben der Deutschen. Und eine wissenschaftliche Autorität wird für das alles angerufen: die Demografie.

Doch die meisten Vertreter dieser Disziplin schütteln über die aktuelle Aufgeregtheit nur den Kopf. Sie wissen, dass die Geburtenrate, die Zahl der geborenen Kinder pro Frau, in Westdeutschland schon seit 30 Jahren etwa bei 1,4 liegt, und damit unterhalb des Wertes von 2,1, der zur Bestandserhaltung der Elterngeneration nötig wäre. Neu ist das nicht. Und auch nicht die Ursache der gesellschaftlichen Probleme hierzulande. Zumindest gibt die ins Feld geführte Wissenschaft keinen Anlass zum aktuellen Alarmismus.

Nehmen wir nur die Behauptung, der Kindermangel führe dazu, dass die Renten nicht mehr stiegen, weil nicht mehr genügend Beitragszahler geboren würden. Unsinn, sagt Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts für Ökonomie und demographischen Wandel. Der Grund für die momentane Stagnation sei allein die schlechte Konjunktur – sie ist belastender als alles andere. Das Rentensystem könne mit einer geringeren Bevölkerungszahl durchaus zurechtkommen, das eigentliche Problem sei das vorübergehende Ungleichgewicht zwischen unterschiedlich starken Geburtenjahrgängen – doch das geht vorüber.

Die Probleme der Gesellschaft werden fahrlässig „demografisiert“. Die Wirtschaft lahmt, der Sozialstaat ächzt, und wer ist angeblich schuld? Die Bürger, die keinen Nachwuchs liefern.

Was nicht heißen soll, dass die Demografie zur Erkenntnis der Probleme nichts beizutragen hätte. Sie kann beispielsweise vorrechnen, dass die massive Steigerung unserer Lebenserwartung eine Belastung des Rentensystems bedeutet. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts werden die Deutschen jedes Jahrzehnt um etwa zweieinhalb Jahre älter, ein Ende des Trends ist nicht abzusehen. Doch auch hier ist der Ruf nach mehr Kindern sinnlos. Kein Babyboom könnte so viele Geburten bescheren, dass er den Effekt der Alterung ausgleichen würde. Wollte man den prozentualen Anteil der über 64-Jährigen in der Bundesrepublik bis 2050 konstant niedrig halten, müsste die deutsche Bevölkerung bis dahin auf über 180 Millionen Menschen anschwellen. Pro Jahr würden 3,6 Millionen neue junge Mitbürger gebraucht. Wer sollte die alle gebären?

Wie wenig die „Überalterung“ mit den Geburtentrends zu tun hat, zeigen auch Forschungsergebnisse des Wiener Instituts für Demografie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dort rechneten die Wissenschaftler aus, wie sich der Altenquotient – also die Summe aller Alten ab einem bestimmten Jahrgang, geteilt durch die Summe aller Jüngeren – ändert, wenn man die Trenngrenze zwischen Alt und Jung regelmäßig der gestiegenen Lebenserwartung anpasst, sie also erhöht. Der klassische Quotient der über 64-Jährigen zeigt das geläufige Bild der „Vergreisung“: Sind die Alten im Jahr 2000 mit 26 Prozent noch in der Minderheit, so stellen sie im Jahr 2100 mit 80 Prozent den übergroßen Teil der Bevölkerung. Der Quotient mit Altersanpassung hingegen steigt zwar bis auf ein Maximum von knapp 40 Prozent im Jahr 2040, wenn die Babyboomer alt sind. Dann fällt er aber wieder zurück bis auf etwa 30 Prozent am Ende des Jahrhunderts. Und danach wird er weiter sinken. Wenn die Babyboomer sterben, erlebt Deutschland also eher eine ungebremste Verjüngung statt einer Vergreisung.

Übertragen auf die staatliche Altersvorsorge bedeutet das: Eine stetig angehobene Altersgrenze würde das Rentenproblem auf Dauer entschärfen. Politisch mag das momentan nicht sehr populär und wenig opportun sein – doch aus demografischer Sicht wäre es logisch, wenn die Menschen länger arbeiteten. Denn das „gesunde Lebensalter“ steigt ebenso schnell wie das absolute: Ein 70-Jähriger ist körperlich und geistig heute so fit wie ein 60-Jähriger im Jahr 1965.

„Die Demografie ist kein Tsunami, der uns alle überrollt, und hinterher sind wir mausetot“, sagt der Mannheimer Ökonom Börsch-Supan. Dieser Eindruck sei vielleicht das Ergebnis der öffentlichen Debatte, aber auf jeden Fall nicht das seiner Modellrechnungen. Die zeigen beispielsweise, dass ein Großteil des heutigen Wirtschaftswachstums auch in 50 Jahren erhalten bleibt – und dass es dafür nur eine untergeordnete Rolle spielt, wie viele Kinder in den nächsten Jahrzehnten zur Welt kommen. Egal, ob die Geburtenrate bei 1,4 bleibt, auf 1,1 absinkt oder in Kürze bis auf 1,8 ansteigt, langfristig bringen alle Prognose-Szenarien das gleiche Wachstum: Das Bruttonationaleinkommen pro Einwohner steigt jährlich um etwa 1,5 Prozent. Die Prognosen sind nicht mehr so rosig wie in den goldenen Siebzigern und Achtzigern, aber auch nicht viel schlechter als der Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre mit etwas über zwei Prozent. Wenn es gelänge, den Anteil von Frauen und älteren Arbeitnehmern an der Erwerbsarbeit zu erhöhen, würde der Verlust sogar noch geringer ausfallen.

Aus Sicht von Arbeitnehmern wäre ein Bevölkerungsrückgang sogar positiv. „Die qualifizierte Arbeitslosigkeit erledigt sich durch die Demografie von selbst“, meint der Mannheimer Forscher. Akademiker ohne Job dürfte es in 30 Jahren kaum noch geben. Der neueste Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung und ebenso das Schweizer Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos sagen eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen bis 2030 voraus. Bei konstant bleibender Geburtenrate. Wohlstandsverfall durch Kinderlosigkeit? Die Forschung kann diese These nicht stützen.

Christoph Butterwegge, Politologe an der Universität Köln, erblickt in der gegenwärtigen Debatte eine „Biologisierung“, deren Motiv die „Erhaltung des deutschen Genmaterials“ sei und nicht etwa die zahlenmäßige Größe der Bevölkerung in Deutschland. Die ließe sich auch durch mehr Einwanderung konstant halten. Die Vereinten Nationen rechnen vor, dass dazu bis 2050 etwa 330000 Menschen jährlich in die Bundesrepublik einwandern müssten – eine Zahl, die keineswegs jenseits des deutschen Erfahrungsrahmens liegt. Dennoch werde Zuwanderung als demografische Gestaltungsmöglichkeit kaum diskutiert, kritisiert Butterwegge. Im Gegenteil: In einem Atemzug würden in der Debatte die niedrigen Geburtenraten mit einer drohenden Überfremdung genannt.

Man mag es für übertrieben halten, wenn der Rechtsextremismusforscher Butterwegge im deutschen Demografiediskurs eine völkische Komponente sieht, die ihn „an die Weimarer Republik kurz vor 1933“ erinnert. Aber stutzig macht es schon, wenn man feststellt, wo die semantischen Ursprünge der Auseinandersetzung liegen: Was heute in der Zeitung steht, ist in nicht unerheblichen Teilen das Vokabular Friedrich Burgdörfers. In der Weimarer Republik war er nicht nur einer der prominentesten Bevölkerungsforscher, sondern auch ein Verfechter von Eugenik und Rassenhygiene.

Heute fordert Herwig Birg, derzeit wohl der medial einflussreichste Bevölkerungsforscher Deutschlands, öffentlich ein „ökologisch nachhaltiges Handeln“ für den „Menschen als natürliche Spezies“. Insbesondere der Geburtenrückgang in Ostdeutschland sei „schlimmer als der Dreißigjährige Krieg“. Die FAZ räumt Birg gleich eine ganze Serie ein, in der er als alleiniger Autor und ohne Gegenstimme seine Ansichten in einem zehnteiligen Grundkurs Demographie verbreiten darf. Damit ist das Blatt in unguter Gesellschaft: Im Internet findet sich kaum eine NPD-Seite, die nicht vor Äußerungen des Bielefelder Katastrophisten strotzt.

Wer der These vom rechtsnationalen Demografiediskurs nicht folgen mag, könnte es dennoch interessant finden, dass auch das heute oft bemühte Bild von der „Urne“, zu der sich die Bevölkerungspyramide entwickeln könnte, auf Friedrich Burgdörfer zurückgeht, der damit 1932 auf den drohenden Verlust der „physischen Kraft und Gesundheit des Volkskörpers“ hinweisen wollte.

Mit der viel zitierten „Pyramide“ werde „eine Vorstellung von einem natürlichen Soll-Bild generiert, das nie existiert hat“, sagt der Bevölkerungsgeograf Stephan Beetz. In der Geschichte gebe es schlichtweg keine Gesellschaft, deren Aufbau man als „natürlich“ bezeichnen könne. Wenn heute die ehemals so „gesunde“ Form der Bevölkerungspyramide nach dem Bild einer Tanne als erstrebenswertes Ideal dargestellt werde, so sei das schlichtweg Unsinn. Bis 1910, als die deutsche Pyramide noch eine Tanne war, hatte sie zwar eine starke Basis aus Kindern, und keine zehn Prozent der Bevölkerung waren älter als 64 Jahre.

„Aber wollen wir wirklich so eine Gesellschaft wiederhaben?“, fragt Beetz. Die Tanne blieb nur deshalb Tanne, weil 1910 jedes sechste Neugeborene bereits im ersten Jahr starb. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer deutschen Frau lag damals etwa bei 45 Jahren. Für Stephan Beetz ist die Tanne deshalb ein Symbol. Sie steht dafür, wie dumm es ist, den Wandel einer freien Gesellschaft entlang einer normativen Demografie zu diskutieren.

Was nicht heißen soll, dass Familienpolitik etwas Schlechtes ist. Doch erst wenn wirtschaftliche und soziale Herausforderungen wieder als solche diskutiert werden – und nicht als Problem der biologischen Reproduktionsrate –, kann die Familienpolitik das tun, was sie eigentlich soll: Menschen die Verwirklichung eines Kinderwunsches ermöglichen. Mehr nicht.

Nur das verspreche langfristig auch mehr Geburten, sagt James Vaupel, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Schweden ist in seinen Augen ein gutes Beispiel: Dort hat eine solide demografische Debatte schon vor 30 Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Zielvorstellung war dabei nicht eine bestimmte Geburtenrate, und es war nicht der schwedische Volkstod, der die Politiker zum Handeln trieb. Sondern die Vision, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Gleichberechtigung – auch der Geschlechter – das oberste Ziel ist. Bis heute bekommt in Schweden jede Frau durchschnittlich mehr als zwei Kinder.

Insbesondere die junge Generation dürfte sich in einer Debatte nach schwedischem Vorbild eher wiederfinden als im gegenwärtigen Panikdiskurs. Der schafft vor allem eins: Verunsicherung. Der Chefdemograf James Vaupel rät darum zu mehr Gelassenheit: „There is too much angst in Germany – and not enough hope.“

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